In der jüngsten Stellungnahme „Hirntod und Entscheidung zur Organspende“ sind sich die Mitglieder des Deutschen Ethikrats darüber einig, dass es für eine Organtransplantation ausreicht, den Hirntod festzustellen. Ab wann der Mensch aber als tot gilt, darüber streiten sie sich.
Falls es ein Ziel der Stellungnahme war, der verbreiteten Verunsicherung zum Thema Organspende entgegenzuwirken und das Vertrauen in die Transplantationsmedizin zu stärken, ist dies gründlich missglückt. Stattdessen schürt die Uneinigkeit des Deutschen Ethikrats Ängste bei Patienten und stellt Mediziner vor neue Herausforderungen. Die Frage, ob ein Hirntoter tatsächlich tot ist, spaltet die Mitglieder derzeit in zwei Lager: Für eine Mehrheit von 18 Mitgliedern gilt der Hirntod als sicheres Zeichen für den Tod des Menschen. Für eine Minderheit von 7 Mitgliedern, darunter der Rechtswissenschaftler Wolfram Höfling sowie die Ärztin und Medizinethikerin Claudia Wiesemann und die Vorsitzende des Ethikrats, Christiane Woopen, gilt der Hirntod zwar als notwendige, nicht jedoch als hinreichende Bedingungen für den Tod. Ihrer Ansicht nach ist der hirntote Mensch als noch Lebender einzustufen, der sich in einem Endstadium des Sterbens befindet. Die Gegner der Hirntodkonzeption argumentieren folgendermaßen: Man könne Leben auch als eine Art Systemeigenschaft betrachten, als Interaktion von Komponenten auf allen Ebenen vom Molekül zum Organ bis zum Organismus und seiner Umwelt. Und ein intensivmedizinisch versorgter, hirntoter Körper könne noch eine Vielzahl von Funktionen ausüben, beispielsweise Homöostase, Wundheilung, Infektabwehr, Wachstum und Schwangerschaft/Geburt. Abgesehen von den „mentalen“ Aufgaben, lassen sich alle Funktionen des Gehirns zur Aufrechterhaltung des Organismus intensivmedizinisch ersetzen. Der irreversible Verlust der Gehirnfunktion beim Hirntod führe somit nicht zur Desintegration des Körpers und damit auch nicht zum Tod. Manche Mitglieder des Ethikrats sehen daher im Hirntod einen neuen, intensivmedizinisch herbeigeführten „dritten“ Zustand zwischen Leben und Tod.
Überraschenderweise haben die Kritiker des Konzepts unabhängig davon kein Problem damit, einem nicht-toten Körper lebenswichtige Organe zu entnehmen und damit den Tod des Menschen herbeizuführen. Die Regel, dass Organe nur einem toten Spender entnommen werden dürfen (Dead-Donor-Rule), ist ihrer Meinung nach überflüssig. Für ihre Begründung spielt der Wille des Patienten die entscheidende Rolle: „Seine Entscheidung, sein Leben nicht nur durch die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, sondern mit einem Akt der Organspende zu beenden, kann und sollte respektiert werden.“ Mit der Entnahme lebenswichtiger Organe beim hirntoten Patienten werde ein hochrangiger Zweck verfolgt, den auch der Patient selbst durch seine Bereitschaft zur Organspende als hochrangig anerkenne. Zur Verwirklichung dieses Zwecks müsse der Arzt in die allerletzte Sterbephase eingreifen. Zudem geschehe dieser Eingriff erst viele Stunden nach demjenigen Zeitpunkt, zu dem ohne Bereitschaft zur Organspende der Sterbeprozess ohnehin bereits abgeschlossen wäre. Die Mehrheit des Ethikrats hält dagegen an der Notwendigkeit der Dead-Donor-Regel fest. Sie lehnen eine Entnahme lebenswichtiger Organe bei noch lebenden Spendern sowohl aus ethischen als auch verfassungsrechtlichen Gründen ab, denn: „Das Leben steht moralisch und rechtlich unter dem besonderen Schutz des Tötungsverbots. Dies gilt für die gesamte Dauer des Lebens, also ohne Abstufungen bis an sein Ende.“ Die Mitglieder sind der Meinung, dass kein lebender Mensch aus fremdnützigen Gründen getötet werden darf – und weder das moralisch achtenswerte Motiv der Lebensrettung anderer noch eine etwaige Einwilligung des Spenders würden daran etwas ändern.
Einigkeit besteht im Ethikrat indes bei der Frage, ob allein das Erlöschen der mentalen Fähigkeiten, also der Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk- und Entscheidungsfähigkeiten bereits ausreicht, um als tot zu gelten. Die Experten beantworten diese Frage einhellig mit einem klaren Nein: „Bei wem etwa durch äußere Stimuli noch irgendeine Form von Schmerzerleben erzeugt werden könnte […], der wäre nicht tot, und zwar auch dann nicht, wenn sich außer diesem Minimum sensorischen (Schmerz-) Empfindens keine noch so winzige Spur sonstigen Erlebens mehr in ihm nachweisen ließe.“ Außerdem stimmen die Mitglieder des Ethikrats darin überein, dass mittels Hirntoddiagnostik zuverlässig der irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen festgestellt werden kann. Liegt ein solcher irreversibler Ausfall vor, besteht seitens des Arztes keine Indikation mehr für therapeutisch ausgerichtete Maßnahmen, und auch Atmung und Herz-Kreislauf-Funktionen muss er nicht mehr aufrecht erhalten. Im Hinblick auf eine potenzielle Organspende scheiden sich jedoch die Geister bei der Frage nach organprotektiven Maßnahmen: Während die meisten Mitglieder des Ethikrats hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen, wollen drei Mitglieder sich dieser Ansicht nicht anschließen und erläutern ihre Position in einem Sondervotum. Ihrer Meinung nach gebe es keinen Bedarf für eine gesonderte Intervention des Gesetzgebers. Auch widersprechen sie vehement der Annahme, organprotektive Maßnahmen könnten prinzipiell den Patienteninteressen zuwiderlaufen: „Der ärztliche Behandlungsauftrag konzentriert sich auf das Wohl des Patienten und nicht auf eine theoretische Möglichkeit zur Organspende.“ Weiterhin habe der in manchen Formulierungen der Stellungnahme mitschwingende Verdacht, die intensivmedizinische Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen im Umfeld der Hirntoddiagnostik instrumentalisiere den Versterbenden, mit der klinischen Praxis auf Intensivstationen nichts zu tun.
Von zahlreichen Akteuren des Gesundheitssystems wurde die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats grundsätzlich begrüßt, darunter von den neuromedizinischen Fachgesellschaften DGN, DGNI und DGNC sowie von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Peter Scriba, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer (BÄK). Nach Scribas Angaben habe die BÄK dem Bundesgesundheitsministerium gerade eine Neufassung der Richtlinie zur Hirntoddiagnostik vorgelegt. Höchste Zeit, denn das Transplantationsgesetz fordert, dass die BÄK in ihren Richtlinien den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnis festhält – die aktuell gültige Richtlinie stammt jedoch aus dem Jahr 1998.