Brustkrebspatientinnen zeigen schon vor der medikamentösen Behandlung Aufmerksamkeitsstörungen und machen signifikant mehr Fehler. Diese kognitiven Störungen werden offenbar durch posttraumatischen Stress infolge der Krebsdiagnose verursacht.
Bei Krebspatienten können Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und anderer Basisfunktionen mentaler Prozesse auftreten, wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen feststellten. Diese kognitiven Beeinträchtigungen wurden lange ausschließlich auf Nebenwirkungen der Chemotherapie zurückgeführt und erhielten den Namen Chemobrain – bis eine Reihe von Studien ein „Chemo-Gehirn“ schon bei Patienten nachwies, deren medikamentöse Behandlung noch gar nicht begonnen hatte. Jetzt konnte ein Team um Dr. Kerstin Hermelink vom Brustzentrum der Frauenklinik der LMU zeigen, dass höchstwahrscheinlich posttraumatischer Stress infolge der Krebsdiagnose die bisher unerklärten Störungen vor Therapiebeginn verursacht.
Vor allem bei Brustkrebspatientinnen wurde über Störungen kognitiver Funktionen schon vor Therapiebeginn vielfach berichtet. Zu den Ursachen gab es bisher nur Vermutungen: Die Krebserkrankung selbst könnte bestimmte Gehirnfunktionen beeinträchtigen, beispielsweise durch eine vermehrte Ausschüttung von Zytokinen, oder Krebserkrankung und kognitive Beeinträchtigung könnten eine gemeinsame genetische Grundlage haben. Die LMU-Forscher haben mit ihrer Studie nun eine andere Erklärung überprüft und bestätigt. „Eine Krebserkrankung kann als Trauma erlebt werden. Vor allem kurz nach der Diagnose entwickeln viele Krebspatienten sogar Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung“, sagt Kerstin Hermelink. „Stress hat großen Einfluss auf unsere geistige Leistungsfähigkeit und hinterlässt deutliche Spuren im Gehirn – da lag es nahe zu untersuchen, ob die kognitiven Störungen, die manche Brustkrebspatientinnen zeigen, durch den Stress der Krebserkrankung verursacht werden.“
Die Wissenschaftler untersuchten mehr als 160 Brustkrebspatientinnen und 60 Frauen, bei denen eine Untersuchung der Brust keinen Verdacht auf Krebs ergeben hatte, zu drei Zeitpunkten im Verlauf des ersten Jahres nach der Diagnose. Vor Behandlungsbeginn zeigten die Patientinnen und die gesunden Frauen nahezu identische Leistungen in kognitiven Tests, nur in einem Test der Aufmerksamkeit unterliefen den Patientinnen deutlich mehr Fehler. „Wie vermutet hing die Fehlerzahl in diesem Test mit posttraumatischer Stressbelastung zusammen – je stärker die Teilnehmerinnen belastet waren, umso mehr Fehler machten sie. Der Zusammenhang war statistisch sehr signifikant“, sagt Kerstin Hermelink. In der Studie wurde vor Therapiebeginn ein wesentlich geringeres Ausmaß kognitiver Beeinträchtigung gefunden als in einigen früheren Untersuchungen. „Das liegt vermutlich daran, dass wir Faktoren, die die Ergebnisse verzerren können, besonders sorgfältig kontrolliert haben“, sagt Hermelink. „Wir haben darauf geachtet, dass die Patientinnen und die gesunden Frauen der Kontrollgruppe sich möglichst wenig unterscheiden.“ Schon kleine Unterschiede im Alter, der Bildung oder der Intelligenz, die zwischen Patientinnen und gesunden Teilnehmerinnen bestehen, können zu unterschiedlichen Testleistungen führen und so fälschlich den Eindruck kognitiver Störungen bei Krebspatientinnen erwecken.
„Unsere Ergebnisse sind eine gute Nachricht für Brustkrebspatientinnen“, ist Hermelink überzeugt. „Zumindest vor Behandlungsbeginn gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Brustkrebspatientinnen unter mehr als minimalen kognitiven Störungen leiden, die durch den Stress der Erkrankung ausgelöst werden.“ Originalpublikation: Elucidating Pretreatment Cognitive Impairment in Breast Cancer Patients: The Impact of Cancer-related Post-traumatic Stress Kerstin Hermelink et al.; Journal of the National Cancer Institute, doi: 10.1093/jnci/djv099; 2015