Annegret Raunigk erregte die mediale Aufmerksamkeit einer ganzen Nation: Mit 65 wurde sie mit Vierlingen schwanger. Möglich machte dies eine Eizellspende aus dem Ausland. Der Sturm der Entrüstung hat sich gelegt – der Streit über Verbote und Machbarkeitswahn bleibt.
Annegret Raunigk wurde von vielen Seiten scharf kritisiert, da sie über 80 Jahre alt sein wird, wenn sich ihre Vierlinge im Teenager-Alter befinden. Ein negatives Beispiel zu den möglichen Konsequenzen ist in diesem Zusammenhang die Spanierin Carmela Bousada, die im Alter von 66 Jahren Zwillinge zur Welt brachte und noch vor deren drittem Geburtstag an einer Krebserkrankung verstarb. Das Augenmerk vieler Ärzte richtet sich vorerst jedoch auf die Risiken, die eine solche Schwangerschaft mit sich bringt: „Der 65-jährige Körper ist definitiv nicht darauf ausgerichtet, eine Schwangerschaft auszutragen. Man kann die Risiken nicht mehr seriös abschätzen“, sagt Prof. Holger Stepan, Leiter der Geburtsmedizin der Uniklinik Leipzig. Tatsächlich steigt mit zunehmendem Alter das Risiko für Schwangerschaftskomplikationen, insbesondere für Gestosen wie die Gestationshypertonie und die Präeklampsie, rapide an. Darüber hinaus erhöht eine Mehrlingsschwangerschaft die Risiken für Mutter und Kinder deutlich. Mit jeder Woche weniger im Mutterleib werden Lungenfunktionsstörungen, intrakranielle Blutungen und systemische Infektionen bei den Frühchen wahrscheinlicher. Trotz aller Risiken versichert der behandelnde Gynäkologe Dr. Kai Hertwig, dass es bis jetzt keinen Anlass zur Sorge gebe: „Bisher macht die Schwangerschaft keinen Unterschied zwischen dem Körper einer Jüngeren oder Älteren.“ Außerdem setze man alles daran, die Geburt so weit wie möglich in die höheren Schwangerschaftswochen zu verschieben, versichert Hertwig.
Die 65-Jährige hat sich bisher von den medialen Vorwürfen um ihre Schwangerschaft unbeeindruckt gezeigt und verteidigt ihre Entscheidung: „Ich bin der Meinung, dass jeder sein Leben so leben sollte, wie er möchte. Da es diese Möglichkeit gibt und sie auch von tausenden Menschen genutzt wird, darf man die auch nutzen.“ Möglich wurde die Schwangerschaft durch ukrainische Reproduktionsmediziner, die Raunigk vor mehr als fünf Monaten vier künstlich befruchtete Eizellen erfolgreich einpflanzten. Sowohl die Samen als auch die Eizellen hatte sie vor Ort gekauft. „Ein Kinderwunschzentrum, das so etwas macht, ist nicht auf medizinische Gesundheit ausgerichtet“, meint Prof. Stepan. „Hier geht es wahrscheinlich nur um die Schlagzeile, das ist unseriöser Extremsport. Man kann das nur verurteilen.“ Die Trends der vergangenen Jahrzehnte zeigen jedoch, dass Fälle wie die von Annegret Raunigk häufiger werden. Sie werden grundsätzliche Debatten zu Grenzen, Möglichkeiten und Risiken von Schwangerschaften in (fast) jedem Alter auslösen. Denn das Durchschnittsalter von Erstgebärenden ist in den vergangenen 35 Jahren in (West-)Deutschland von durchschnittlich 25 auf 30 Jahre angestiegen – und es steigt weiter. Extremfälle wie die von Annegret Raunigk werden nach Auffassung der Reproduktionsmedizinerin Francoise Shenfield vom University College London dennoch die Ausnahme bleiben. Von einer Vorverurteilung älterer Mütter hält sie angesichts der Entwicklungen dennoch wenig: „Es geht nicht darum, alle Grenzen zu akzeptieren, die uns die Natur vorgibt. Die Medizin greift ständig in die Natur ein.“ Stattdessen müsse man Kompromisse finden, die das Wohl der Mutter und der künftigen Kinder berücksichtigt. „Eine Schwangerschaft ist bereits mit 40 Jahren risikoreich“, betont Shenfield. Daher seien 50 Jahre ihrer Meinung nach ein faires Limit.
Im Rahmen der Diskussion um den Fall Annegret Raunigk rückt auch das Thema der künstlichen Befruchtung wieder in den Fokus der Öffentlichkeit, das sie diese Möglichkeiten erst eröffnet. In Deutschland verbucht das IVF-Register jährlich mehr als 50.000 Behandlungen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) oder Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI). In mehr als 85 Prozent der Fälle besteht bei mindestens einem der Partner eine medizinische Indikation zur assistierten Reproduktion. Während eine Samenspende bei unzureichender Spermienqualität des Vaters zulässig ist, haben die drei bis fünf Prozent der Frauen ohne funktionsfähige Eizellen hierzulande jedoch schlechte Karten: Das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verbietet sowohl die Eizellspende als auch die Leihmutterschaft. Zentraler Einwand ist die potenzielle Gefahr, die von der doppelten Mutterschaft für die Identität und Psyche des Kindes ausgehe. Damit gehört Deutschland zu einer schrumpfenden Anzahl europäischer Staaten, darunter auch Italien und die Schweiz, die Frauen mit Kinderwunsch in dieser Hinsicht offenbar benachteiligen. Hierzulande kämpfen Reproduktionsmediziner seit über einem Jahrzehnt für ein deutsches Fortpflanzungsmedizingesetz, in dem die Bedingungen einer Eizellspende verankert sind, unter denen sich auch ein Missbrauch zu Forschungszwecken, wie der Gesetzgeber ihn unter anderem fürchtet, vereiteln lässt. Zu diesem Zweck haben die Experten den sogenannten Augsburg-Münchener-Entwurf konzipiert, der jedoch bislang von den Vertretern des Volkes ignoriert wird. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU findet sich keine Absicht zur Auseinandersetzung mit dem Thema, sodass die aktuelle Lage wahrscheinlich noch bis mindestens 2017 Bestand hat.
Wer es sich leisten kann, flüchtet daher wie Annegret Raunigk vor dem Verbot der Eizellspende in die europäischen Nachbarländer und macht einen kostspieligen Kurzurlaub in einer Reproduktionsklinik. Für eine IVF-Behandlung mit Eizellspende legen Paare in diesen Ländern teils mehr als 8.000 Euro auf den Tisch. Besonders in Spanien und Tschechien floriert das Geschäft mit den Eizellen, da aus dem ergiebigen Pool eines etablierten Spendensystems geschöpft werden kann – Spenderinnen erhalten dort eine lukrative Aufwandsentschädigung im drei- bis vierstelligen Bereich und ihre Anonymität bleibt gewahrt. „Von der Ukraine würde ich abraten“, sagt Shenfield, die auch für die Europäische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Embryologie (ESHRE) tätig ist. „Denn dort sind die Gesetze zum Schutz aller Beteiligten nicht ausreichend.“ Genaue Zahlen zum sogenannten Befruchtungstourismus selbst gibt es kaum. Im Jahr 2010 registrierte die ESHRE in einer Untersuchung innerhalb eines Monats 177 Fruchtbarkeitsbehandlungen deutscher Staatsangehöriger im europäischen Ausland, davon knapp die Hälfte zwecks einer Eizellspende. Es muss jedoch von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgegangen werden, da solcherlei Daten auf freiwilliger Basis der Zentren erhoben werden. Da die Seriosität mancher Kliniken im Hinblick auf den Fall Raunigk offen angezweifelt wird, stellt sich die Frage, ob die Behandlung eines unerfüllten Kinderwunschs unter geänderten gesetzlichen Vorzeichen nicht hierzulande besser aufgehoben wäre. „Auch in Deutschland könnten wir Schwangerschaften wahrscheinlicher machen, aber das Embryonenschutzgesetz macht uns einen Strich durch die Rechnung“, klagt Klaus Bühler vom Deutschen IVF-Register.
Doch auch wer innerdeutsche Angebote in Anspruch nimmt, muss für die erlaubten Reproduktionstechniken tief in die Tasche greifen. Mit dem Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes im Jahr 2004 sank die für verheiratete Paare zugesagte Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkassen von 100 Prozent auf 50 Prozent und degradierte die Unfruchtbarkeit zum Lifestyle-Problem. Bei durchschnittlichen Aufwendungen von mehr als 4.000 Euro pro Behandlung liegt die Zuzahlung in einem Bereich, den sich viele Paare nicht mehr leisten können, sodass sich die Zahl der IVF-/ICSI-Behandlungen seither nahezu halbiert hat. Durch die seit April 2012 geltende Richtlinie zur assistierten Reproduktion erklärt sich der Bund zwar zu einer Bezuschussung von bis zu 25 Prozent des verbleibenden Eigenanteils bereit, schiebt den schwarzen Peter jedoch den Ländern zu, von denen er eine Beteiligung fordert. Dabei spielen jedoch bisher nur die eher dünn besiedelten Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen mit.