„Wenn ich hier morgens hinfahre und die Verwüstung und das Elend sehe, bin ich heilfroh, dass ich abends wieder nach Hause kann.“ So fasst Dr. Marcus Friedl aus Bad Neuenahr die Situation am Standort seiner Praxis zusammen.
Die Gemeinschaftspraxis, die er mit seiner Frau betreibt, wurde bei der Überflutung völlig zerstört. Ein kleiner Lichtblick: Die Patientendaten konnte das Team retten. Dagegen stehen auch bei Friedl aber Chaos, Tonnen an Schlamm und vernichtete Impfstoffe im Wert von Tausenden Euro. „Es riecht hier überall nach Abwasser und Benzin, die Luft ist wahsinnig staubig und einfach alles ist kaputt.“
Das Praxisinventar hat der Arzt mit seinem Team schon am Tag nach der Flut auf die Straße geschafft, jetzt steht die Kernsanierung des Praxisgebäudes an. „Dafür muss aber erst der Schlamm raus und das versackte Wasser unter den Dielen abgepumpt werden. Wir reißen dort gerade also den Boden auf.“ Ein Problem, mit dem Friedl nicht allein ist: Um so viel Bausubstanz zu retten wie möglich, müssen die Schlammmassen weg, bevor sie aushärten. In den Straßen des Orts türmen sich daher Möbel, Müll und Erde, teils zwei bis drei Meter hoch – alle Anwohner räumen Wohnungen, Büros und Geschäfte aus.
Inzwischen hat das Praxisteam mit Helfern vor Ort, darunter Johanniter, das THW, DRK und die Bundeswehr, eine Ersatzpraxis auf der südlichen Ahrseite aufgebaut. „Mit einem befreundeten Schmerztherapeuten aus Altenahr habe ich über die Lage dort gesprochen. Da blieb kein Stein auf dem anderen, wir haben hier längst nicht das Schlimmste gesehen. Aber darauf kann ich mich jetzt nicht konzentrieren, wir müssen die Versorgung unserer Patienten hier sicherstellen“, sagt Friedl.
Das gelinge bisher gut: In einem Altenheim hat er die Übergangspraxis einrichten können. Ein großer Wagen mit Verbandsstoffen stehe zur Verfügung, außerdem Feldbetten und Notfallequipment. Eine Intensivversorgung sei möglich. Es bestehe die Möglichkeit, weitere Hilfe anzufordern, auch Rettungswagen. Er könne Infusionen legen und spezielle Medikamente organisieren, ebenso wie vergleichsweise banale Aufgaben eines Kassenarztes erfüllen: „Krankschreibungen, Rezepte, Hausbesuche. Aber Ausfüllen geht nur händisch.“ Auch eine notfallchirurgische Ambulanz gebe es inzwischen am Ort. Zusammen mit fahrbaren Praxen sei damit die ärztliche Versorgung südlich der Ahr gesichert, schätzt Friedl die Lage ein. „Das ist das Wichtigste.“
Neben der medizinischen Grundversorgung beschäftigt ihn und sein Team vor allem die akute Betreuung der Helfer. Benötigt werden auch Tetanus-Impfstoffe – und zwar reichlich. „Wir haben jede Menge übergelaufener Toiletten und damit Fäkalkeime in dem Wasser hier. Die Leute arbeiten mit nackten Armen und Händen, tragen vielleicht auch mal scharfkantige Gegenstände und verletzen sich.“ Der Arzt bestellt vor allem Dosen zur Auffrischung (Tetanol®), aber auch für Erstimmunisierungen (Tetagam®).
Dass die Lieferungen und bestellten Medikamente in der Ersatzpraxis ankommen, ist Friedls Verbindungen ebenso geschuldet wie der Hilfsbereitschaft vor Ort. „Wir sind seit drei Jahren hier niedergelassen, da haben wir einige Connections. Und die sind in unserer Not noch enger geworden. Die Kollegen rufen sich an und verlassen sich aufeinander. Das läuft.“
Er arbeitet dabei auch mit einer Apothekerin zusammen, deren Offizin vollkommen zerstört wurde – eine von Dutzenden, die genaue Zahl ist noch nicht klar. Sie organisiere sich jetzt von Köln aus. Überhaupt läuft viel über Mundpropaganda, Telefonate und WhatsApp. „Für die neue Praxis haben wir auch so Werbung gemacht, haben Flyer verteilt und Anschläge an wichtigen Punkten angebracht. Noch sind nicht viele Patienten zu uns gekommen, aber das wird mehr. Und sie wissen bald, wo sie Hilfe bekommen können.“
Dass er dabei als Kassenarzt keinen Regress befürchten muss, wurde ihm schriftlich von der KV zugesichert. „Das war anfangs ein Problem, weil die Hausärzte natürlich massive Regresse befürchtet haben. Da wurde teilweise kein Insulin verordnet, man wusste nicht, was ist mit Sondenkost oder speziellen Medikamenten bei neurologischen Erkrankungen.“ Seine Praxis verordne jährlich gut eine halbe Million Medikamente. „Regress geht nicht, das Geld hab ich einfach nicht. Aber was ich jetzt habe, ist die Gewähr von der KV, dass ich verordnen darf, was ich verordnen muss. Dass mein Budget dabei gesprengt wird, ist klar, soll aber keine Folgen haben.“
Diese Problematik betrifft viele Ärzte: Anfang der Woche waren es noch 59 Praxen, die im Bereich Nordrhein von Überflutungen betroffen waren – inzwischen sind es 105, wie die KVNO auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt. „Wir haben bei der KV Nordrhein einen Krisenstab eingerichtet und Kontakt zu allen Praxen in Nordrhein aufgenommen, um uns ein Bild der Lage zu verschaffen. Wie die Hilfsangebote genau aussehen werden, stimmen wir derzeit noch ab. Wir werden aber, wo es nur geht, unbürokratische Hilfe anbieten, damit sich die betroffenen Praxen weiter um die Versorgung ihrer Patienten kümmern können“, so Sven Ludwig, Pressesprecher der KVNO.
Dass es unbürokratischer zugehen muss, betont auch Friedl. „Wir lernen jeden Tag neu, wies weitergehen soll. Da muss so mancher auch mal einsehen, dass man jetzt schnell und unkonventionell agieren muss, damit kein weiterer Schaden entsteht.“ Das betreffe neben kleineren Problemen wie Schnittwunden und Magen-Darm-Erkrankungen auch die COVID-19-Pandemie. Impfungen müssten weiter vorangetrieben werden, mobile Angebote dazu sollten ausgeweitet werden, findet Friedl. „Es bringt nichts, wenn Sie den Leuten sagen ‚Kommt zum Bahnhof, um euch impfen zu lassen’ – wie sollen die da hin kommen? An anderen festen Orten verstopfen sie auch nur weiter die sowieso schon vollen Straßen und am Ende kommen vielleicht Hilfskräfte nicht mehr durch.“
Er könne nicht abschätzen, wie sich die Infektionen mit SARS-CoV-2 in der Gruppe der Helfer vor Ort entwickeln werde. Aber: „Keiner trägt hier eine Maske, keiner hat eine Maske. Jeder ab Mitte 40, der einen Risikofaktor hat – und das kann ja schon Adipositas sein – und hier mithilft, sollte geimpft sein oder jetzt seine Zweitimpfung bekommen.“ Natürlich können Corona-Ansteckungen direkt über Kontakte beim Helfen oder in Notunterkünften und auf lange Sicht auch indirekt über verpasste Impftermine geschehen. Friedl rechnet darüberhinaus mit möglichen Salmonellen-Infektionen. Er gibt aber Entwarnung: „Wenn ein gesunder 30-Jähriger unter diesen Umständen eine Weile leben muss, der Schmutz, das Wasser, die Luft und auch noch Corona, dann ist das sehr unangenehm, aber dem wird vermutlich nichts passieren.“
Grundsätzlich fehle es an einer übergeordneten Organisation, mit der Einsätze der vielen Freiwilligen und anderen Helfer geregelt werden könnten. Friedl berichtet von Johanniter-Gruppen, die stundenlang auf Anweisungen gewartet hätten, weil sie sich schlicht vor Ort nicht auskennen. „Ein ärztlicher Kollege rief mich auch an und kündigte an, er wolle vorbeikommen, helfen. Ich sagte ihm nur, er müsse erst mal schauen, ob er überhaupt zu uns durchkommt und wo er dann hier bleiben kann.“
Wichtig sei aber, bei aller Emotionalität und auch Kritik, den Zusammenhalt nicht aus den Augen zu verlieren. „Da wird am weggespülten Zaun noch über Grundstücksgrenzen und wem die Mülltonne zusteht gestritten. Das ist auch auf höherer Ebene so“, sagt Friedl. Aber erst heute morgen sei er wiederum vom Krisenstab der KV angerufen worden. „Man hat mir mitgeteilt, wo ich schnell an weitere Medikamente komme. Es braucht seine Zeit.“ Unkomplizierte Lösungen zu finden und davon auszugehen, dass jeder sein Bestes gibt: Das wünscht Friedl sich für Bad Neuenahr.
Seht hier, wie weitere Kollegen mit der Flut umgehen.
Bildquelle: The Tampa Bay Estuary Program, Unsplash