In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind bei der schwersten Hochwasserkatastrophe in Deutschland seit Jahrzehnten mindestens 165 Menschen ums Leben gekommen. Allein im Landkreis Ahrweiler sind bis zum Montagmorgen mehr als 117 Tote zu beklagen, 749 Menschen wurden dort verletzt. In NRW waren bis Sonntagmittag 46 Tote gezählt worden. In Bayern kamen zwei Menschen ums Leben, darunter starb eine Person nach Angaben von Landrat Bernhard Kern an einer natürlichen Ursache, doch ein Zusammenhang mit dem Unwetter sei nicht ausgeschlossen. Nach wie vor gelten Menschen in den Flutgebieten als vermisst, präzise Zahlen dazu gibt es momentan nicht. Auch in der Sächsischen Schweiz und Oberbayern kam es am Samstag zu Überschwemmungen.
Kritik am für den Katastrophenschutz zuständigen Innenminister Horst Seehofer. Wirtschaftsminister Peter Altmaier forderte Aufklärung, ob der Katastrophenschutz ausreichend funktioniert habe. «Gibt es Dinge, die nicht gut gelaufen sind, gibt es Dinge, die schief gelaufen sind? Und dann muss korrigiert werden», sagte der CDU-Politiker am Sonntag bei«Bild live». Der FDP-Fraktionsvize Michael Theurer sieht schwere Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz. «Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. «Es bietet sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt.»
Derzeit ist nicht mal klar, wie Behörden in Deutschland ihre Bürger in Deutschland im Katastrophenfall warnen sollen. Traditionell per Sirenenalarm oder modern über Warn-Apps für das Mobiltelefon? Einige deutsche Städte haben keine oder nur noch wenige Sirenen, weshalb eine Alarmierung auf diesem Wege nicht flächendeckend möglich ist. Die deutsche Bundesregierung will hier mit einem Förderprogramm nachhelfen.
Die Stadt Wuppertal warnte ihre Bürger in der Nacht auf Donnerstag lautstark vor den Fluten der Wupper, die Teile des Stadtgebiets überschwemmte. Dabei kamen stationäre Sirenen und zehn Lautsprecherwagen zum Einsatz.
Die Verantwortlichen in der Wuppertaler Stadtverwaltung orientierten sich dabei an «Nina», der Warn-App des Bundes. Diese wurde zweimal ausgelöst. Parallel zu «Nina» existiert die App «Katwarn», die von der Fraunhofer-Gesellschaft entwickelt wurde und bei der auch die lokalen Behörden Warnmeldungen auslösen können.
Wie zuverlässig «Katwarn» in der Flutkatastrophe funktioniert hat, lässt sich derzeit nicht sagen, zumal auch die Mobilfunknetze teilweise kollabierten.
Bei einer bundesweiten Übung im Herbst 2020 blieben die Apps hinter den Erwartungen zurück. Die Warnungen kamen damals verspätet an. Obendrein nutzen laut dem Technikmagazin «Chip» nur zehn Prozent der Deutschen eine App für Katastrophenwarnungen.
Eigentlich könnten Warnungen viel einfacher verschickt werden, indem sie an alle Telefone gesendet werden, die sich in einer bestimmten Mobilfunkzelle befinden. Diese Praxis ist z. B. in den USA üblich.
Ein offensichtlich völlig überforderte Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster, erst seit November 2020 im Amt, wies Kritik an seiner Behörde zurück. Im ZDF meinte er entgegen allen Fakten und Tatsachen : «Unsere Warninfrastruktur hat geklappt im Bund.» Auch der Deutsche Wetterdienst habe relativ gut gewarnt. Von diesem Mann stammt auch die Empfehlung, bei Starkregen die Kellerräume zu meiden und den Strom abzuschalten - wohlwissend, dass in allen Häusern die Stromanschlüsse im Keller liegen.
Warum besonders gefährdete Ortschaften nicht evakuiert wurden? Auch diese Frage steht seit dem Wochenende im Raum. Eine Evakuierung des am schwersten verwüsteten Ahrtals in Rheinland-Pfalz wäre aber wohl nur mit einigem Vorlauf möglich gewesen.
In diesem Tal erscheint die «Rhein-Zeitung», deren ehemaliger Chefredaktor am Sonntag anmerkte, dass die dortigen Gemeinden nicht binnen Stunden evakuiert werden könnten. Das Tal verfüge teilweise nur über eine einzige Verkehrsachse, bereits unter normalen Bedingungen für lange Staus bekannt.
Bei der Frage, wo in der Informationskette bis hin zur lokalen Ebene versagt wurde, wurde auch Kritik an den regionalen Programmen des öffentlichrechtlichen Rundfunks laut. Zu spät, zu wenig: Der journalistische Branchendienst dwdl.de warf dem Riesen WDR bei der Frühwarnung der Bürger «unterlassene Hilfeleistung» vor.
Der WDR räumte nicht zuletzt wegen von den Überschwemmungen betroffener eigener Infrastruktur Versäumnisse ein, wies den Vorwurf des Versagens aber, ohne die Faktenlage wirklich prüfen zu wollen, reflexartig zurück.
Vermutlich hätten deutlich weniger Menschen sterben müssen, wenn deutsche und belgische Behörden adäquat auf Hinweise des europäischen Frühwarnsystems Efas reagiert hätten. Das legte am Wochenende die Forscherin Hannah Cloke in einem Interview mit der britischen Tageszeitung «The Times» nahe. Schon am 10. Juli, vier Tage vor dem Unwetter, hätten die Hydrologen vor «extremen Überschwemmungen» in den Ländern gewarnt, sagte Cloke. Sie sei bestürzt gewesen über fehlende Evakuierungen in den Gebieten.
Cloke, die an der englischen Universität Reading Hydrologie lehrt, war am Aufbau des sogenannten European Flood Awareness System (Efta) beteiligt, das nach den Erfahrungen der desaströsen Überschwemmungen an Elbe und Donau im Jahr 2002 entwickelt wurde. Die Idee war, Länder in ganz Europa mithilfe meteorologischer und hydrologischer Daten und anhand von Computermodellen bis zu zehn Tage im Voraus vor Hochwasserkatastrophen zu warnen. 2012 ging das von der EU finanzierte System in Betrieb. Und zwei Jahre später zeigte sich, dass es ausgezeichnet funktionierte: Bei Unwettern auf dem Balkan war es den Behörden in Serbien, Kroatien und Bosnien möglich, sich dank der Efta-Prognosen auf die massiven Überschwemmungen vorzubereiten.
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Dr. Schätzler: Friedhof und Mahnmal für ertrunkene Seeleute, Grundsund/Schweden