Nur die wenigsten wissen, dass das glymphatische System überhaupt existiert. Neurowissenschaftler entdeckten, dass es im Gehirn den zellulären Abfall entsorgt. Lässt sich dieser Reinigungsprozess gezielt manipulieren und somit Alzheimer behandeln?
Die Haut erneuert ihre Zellen regelmäßig, die Niere filtert Toxine aus dem Blut und auch die Lunge hat eine Regenerationsfunktion. Was ist mit dem Gehirn? Wer mistet dort aus? Hier sorgt das glymphatische System für eine regelmäßige „Gehirnwäsche“. Die Abfallbeseitigung ist für jedes Organ von zentraler Bedeutung und es war lange Zeit nicht geklärt, wie das Gehirn seinen Abfall entsorgt. Die Neurowissenschaftler Jeffrey J. Iliff und Maiken Nedergaard entdeckten, dass das Hirn über ein eigenes Reinigungssystem verfügt. Nedergaard und ihre Kollegen stellten erstmals die Methode des Gehirns zur Beseitigung von Abfällen in einer Arbeit in Science Translational Medicine im Jahr 2012 vor. Nicht wenige Wissenschaftler belächelten die Arbeitsgruppe dafür und zweifelten die Ergebnisse an. Trotzdem erhielten sie 3,8 Millionen Dollar vom National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS) und 769.000 Dollar vom Verteidigungsministerium als Forschungsgelder für ihre Arbeit. Seit 2012 erhielten sie mehr als 13 Mio. Dollar – ein Beleg für die Bedeutung der neuen Erkenntnisse.
An den Entsorgungsprozessen sind maßgeblich Gliazellen beteiligt. In Anlehnung an das lymphatische System wird die zerebrale Reinigungsanlage als glymphatisches System bezeichnet. „Wir sind zuversichtlich, dass diese Ergebnisse Auswirkungen auf viele Erkrankungen haben, die das Gehirn betreffen, wie traumatische Hirnverletzungen, Alzheimer, Schlaganfall und Parkinson“, so Nedergaards. Prof. Maiken Nedergaard (Foto: CTN) Es ist bekannt, dass Liquor eine wichtige Rolle bei der Reinigung von Hirngewebe spielt, indem es Abfallprodukte abtransportiert und Nährstoffe durch Diffusion in das Hirngewebe transportiert. Das neu entdeckte System verwirbelt den Liquor in jede Ecke des Gehirns extrem effizient. Dies wird als Massenfluss oder Konvektion bezeichnet. Das glymphatische System arbeitet rasch, effizient und unter Hochdruck. Wasserkanäle, sogenannte Aquaporine, transportieren den Liquor durch das Gehirn.
Innerhalb des glymphatischen Weges gelangt die Liquorflüssigkeit über periarterielle Räume ins Gehirn. Über perivaskuläres astrozytäres Aquaporin-4 wird Liquor in das Interstitium abgegeben und fördert die perivenöse Drainage der Interstitialflüssigkeit. Ein aktuelles Review wirft dabei die Frage auf, ob Pharmaka das glymphatische System aktivieren könnten. Dies müssten zukünftige Studien untersuchen. Jeffrey Iliff beschäftigte sich eingehend mit Beta-Amyloid, dem Protein, das sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten ansammelt. Er fand heraus, dass mehr als die Hälfte des unter normalen Bedingungen aus dem Gehirn einer Maus entnommenen Amyloids über das glymphatische System entfernt werden. Wenn das glymphatische System nicht in der Lage ist, das Gehirn effizient zu reinigen, entweder als Folge des normalen Alterns oder als Reaktion auf Hirnverletzungen, kann sich „Abfall“ im Gehirn ansammeln.
In einer Langzeitstudie wurde nach Risikofaktoren der Alzheimer-Erkrankung gesucht. Probanden, die über Schlafstörungen klagten, haben eine höhere Inzidenz an Alzheimer zu erkranken. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen. Lösen Schlafstörungen eine Dysfunktion des glymphatischen Systems aus oder stört Alzheimer das System? Durch die Induktion von Schlaflosigkeit bei einigen Tieren konnte gezeigt werden, dass sich die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verändert und es dadurch zu einer Ansammlung von Toxinen kommt. Tau-Proteine sind an der Pathogenese der Demenzerkrankung beteiligt und werden durch das glymphatische System eliminiert. Das glymphatische System ist im Schlaf zehnmal aktiver als im Wachzustand. 95 Prozent des zerebralen Abfalls werden beim Schlafen entsorgt. Im Schlaf schrumpfen die Gehirnzellen um bis zu 60 Prozent und schaffen damit Raum für die „Abwasserkanäle“. Ausreichender Schlaf ist somit nicht nur für die Neustrukturierung der kognitiven Funktionen des Gehirns zuständig, sondern auch für Entsorgungsprozesse. Warum reinigt sich das Hirn gerade nachts? Am Tag wird die gesamte Energie für die mentalen Funktionen verbraucht, wodurch keine Energie für die Reinigung bleibt, so vermutet die Arbeitsgruppe um Nedergaards. Auch Arzneimittel können das Reinigungssystem schwächen. „Bei gesundem, gutem Schlaf wird Amyloid mit doppelter Geschwindigkeit aus dem Interstitium ausgeschwemmt. Benzodiazepine unterdrücken das nächtliche Aufräumen im Gehirn“, so Prof. Dr. Hans Förstl von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München.
Eine andere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Funktion des glymphatischen Systems nach traumatischen Hirnverletzungen stark reduziert wurde. Diese Beeinträchtigung bestand für mindestens einen Monat nach der Verletzung fort. Eine Deaktivierung des Gens, das den astroglialen Wasserkanal Aquaporin-4 kodiert, verschlimmerte die Dysfunktion des glymphatischen Signalwegs und erhöhte den Schaden im posttraumatischen Gehirn. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine chronische Beeinträchtigung der Funktion des glymphatischen Signalwegs nach Hirntraumata ein Schlüsselfaktor sein kann, der zu einer Tau-Aggregation und den Beginn der Neurodegeneration führt.
Das glymphatische System steuert auch die zerebrale Laktatkonzentration. Der Hirnlaktatspiegel ist während des Wachzustandes höher als im Schlaf. Es ist nicht bekannt, warum die Erregung mit einem Anstieg des Laktats im Gehirn verbunden ist und warum Laktat innerhalb von Minuten nach dem Einschlafen abnimmt. Eine Studie zeigte, dass eine Störung des glymphatischen Systems zu einer Dysbalance im Laktatspiegel führt. Glukose, die nicht vollständig oxidiert wird, kann als Laktat über den glymphatischen Flüssigkeitstransport ausgeschieden werden. Hirnlaktat könnte zukünftig als Biomarker dienen.
Bisher nahm man an, dass das glymphatische System, ähnlich wie im Schlaf, auch in Narkose seine Aufgabe erfüllt. Die In-vivo-Bildgebung ermöglicht es, den Liquorfluss bei wachen und betäubten Mäusen zu erfassen. In einer Studie wurde die dosisabhängige Wirkung von diversen Narkotika auf das zerebrale Reinigungssystem untersucht. In der Vollnarkose ist das System signifikant beeinträchtigt. Dieser Effekt war besonders signifikant, wenn hohe Dosen von Betäubungsmitteln verwendet wurden, etwa 3% Isofluran. Die parenchymale Diffusion von Verbindungen mit kleinem Molekulargewicht aus dem Liquor ist während des Wachzustandes aktiv. Die Vollnarkose hat einen negativen Einfluss auf die intrakraniale Liquorzirkulation, insbesondere bei Verwendung einer hohen Dosis Anästhetika. Dies könnte dazu beitragen, dass eine Vollnarkose das Risiko für eine Demenzerkrankung steigert, wie Doccheck bereits berichtete. Durch die Kenntnis des glymphatischen System wurde ein einzigartiges Puzzleteilchen der Neurophysiologie und -pathophysiologie entdeckt, die zahlreiche bekannte Fakten unter einem neuen Blickwinkel darstellen. Die Forschung um das glymphatische System steht noch ganz am Anfang und wirft zahlreiche neue Fragen auf. Ist der Grund, weshalb wir schlafen, dass die zerebrale Waschanlage starten kann? Schrumpfen unsere Hirnzellen nachts nur deshalb, um Platz für das „Abfallsystem“ zu schaffen? Übertriebene Hoffnungen für neue Therapiestrategien für Alzheimer & Co sind verfrüht. Bis Pharmaka marktreif sind, die das glymphatische System aktivieren, wird sicherlich noch einige Zeit vergehen.