Digitale Impfnachweise sind nur eine der Möglichkeiten, die man mit Blockchains in der Medizin hätte. Warum also entscheidet Deutschland sich dagegen?
Neben der künstlichen Intelligenz und dem maschinellen Lernen gelten Blockchains als eine der größten technologischen Errungenschaften der letzten Jahre. Während etliche Studien zeigen, wie sie Ärzte dabei unterstützen, Bilddaten auszuwerten oder in elektronischen Patientenakten Hinweise auf Krankheiten zu finden, bringen viele Menschen Blockchains nur mit Bitcoins in Verbindung – zu Unrecht. Eine Spurensuche.
Das Konzept von Blockchain-Technologien ist wenig griffig, lässt sich aber vereinfacht so erklären: Tauschen Rechner sensible Informationen aus, gab es bislang eine zentrale Instanz, um dies zu überwachen. Bei Geldtransaktionen handelt es sich um Banken, bei elektronischen Patientenakten um Bausteine der Health-IT-Infrastruktur oder um Krankenkassen.
Blockchains machen solche Einrichtungen überflüssig. Stellt euch dazu ein Blatt Papier vor. Alle Partner einer Transaktion notieren ihre Vereinbarungen und unterschreiben den Zettel. Er wird digitalisiert und liegt identisch auf mehreren miteinander verbundenen Computern. Neue Transaktionen, etwa zusätzliche Vereinbarungen der Partner, werden nur gespeichert, wenn eine Mehrzahl dieser Rechner den Vorgang als richtig beurteilen. Im Erfolgsfall erhält die erste Niederschrift einen Zusatz. Der Verlauf ist dokumentiert und nicht veränderbar.
Eine Reihe von Notizzetteln sind bildlich gesprochen die Blöcke. Jeder Block enthält Daten und einen digitalen Fingerabdruck. Dieser sogenannte Hash hat eine unumkehrbare Verschlüsselungsfunktion wie ein rohes Ei, das sich, einmal aufgeschlagen, nicht mehr zusammensetzen lässt. Hinzu kommt der Hash des vorherigen Blocks. Dabei wird überprüft, ob die Daten auch stimmen. Insgesamt ist der Schutz vor Manipulationen größer als bei zentralen Datenbanken, auf die einzelne Rechner zugreifen. Genau hier liegt der Mehrwert, auch im Gesundheitswesen.
Ein Beispiel: Um Impfungen digital zu erfassen, sind Blockchains geradezu ideal. Jedes neue Vakzin inklusive Chargennummer, Datum und Arztpraxis bildet einen Block. Anders als beim gelben Impfausweis gelingt es so, Nachweise sicher zu machen. Im In- und Ausland laufen mehrere Anwendungstests für das Verfahren.
Doch der Weg in Richtung Praxis ist weit. In Deutschland hat sich die Regierung trotz anfänglicher Planungen dagegen entschieden, COVID-19-Impfnachweise mit Blockchains aufzusetzen. Die Idee war schon recht weit gediehen. Jedoch erwiesen sich Blockchains als technisch schlechter geeignet, verglichen mit der zentralen Lösung. Sie wäre auch mit europäischen Rahmenvorgaben nicht kompatibel gewesen.
Ähnlich prädestiniert für Blockchains sind elektronische Patientenakten und das aus zwei Gründen. Die Herangehensweise, Dokumente zu ändern oder neue Dateien hinzuzufügen, entspricht genau der Idee von Blockchains. Berechtigungsstrukturen lassen sich dezentral abbilden, etwa über Netzwerke aus gesicherten Praxisrechnern, aber eben ohne GKVen und ohne E-Health-Infrastrukturen. Das kommt auch Zweiflern entgegen, denn die Datenhoheit bleibt ständig in der Hand von Patienten.
Die Daten selbst werden in einem dezentralen Speichersystem verschlüsselt gespeichert und übertragen. Auf der Blockchain wird verankert, wie sich die Daten zur aktuellen Fassung der Patientenakte zusammenfügen. Auch an diesem Thema arbeiten zahlreiche Startups. Hier ist allerdings zu bedenken, dass alles, was einmal in einer Blockchain gespeichert wurde, nicht mehr gelöscht werden kann.
Darüber hinaus bieten sich Blockchains an, um rechtlich verbindliche Dokumente zu erfassen und um Änderungen zu speichern. Organspende-Ausweise oder Patientenverfügungen sind die besten Beispiele. Papiere lassen sich leicht fälschen, aber – was fast noch schlimmer ist – sie sind im entscheidenden Moment oft nicht auffindbar.
Zwei Wissenschaftler aus Würzburg haben dafür technische Lösungen entwickelt. Mit der dezentralisierten Applikation dPaCoS ist es ihnen gelungen, Einwilligungserklärungen unveränderlich in der Blockchain abzulegen. Die Dokumente können dort mit einem nutzerfreundlichen User-Interface bequem verwaltet werden. Sie bleiben für den Ernstfall immer verfügbar. Sogar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat diese Idee ausgezeichnet.
Noch ein Blick auf die Versorgung. Immer wieder landen minderwertige Arzneimittel oder Medizinprodukte in der offiziellen Lieferkette. Das liegt mitunter an Produktionsfehlern, teilweise aber auch an Fälschungen. Speziell für den Arzneimittelbereich wurde securPharm eingerichtet. Wenig überraschend läuft auch hier alles über zentrale Datenbanken. Ähnlich lassen sich beispielsweise Implantat-Register aufbauen.
Blockchains machen jeden dieser Schritte ohne zentrale Instanz vertrauenswürdig und nachvollziehbar. Dazu müsste man Rechner von Herstellern, Groß- und Einzelhändlern, Apotheken, Arztpraxen und Kliniken vernetzen. Schweizer Spitäler testen diese Idee bei Medizinprodukten. Auch für Zulieferer der pharmazeutischen Industrie werden Lösungen untersucht.
Bei so vielen Möglichkeiten sollte man eigentlich erwarten, dass Blockchains längst in der Praxis angekommen sind. Weit gefehlt: Große Durchbrüche sucht man vergebens. „Es ist wie mit jeder neuen Technologie“, sagt Michael Henke, Professor für Unternehmenslogistik an der TU Dortmund und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik (IML). „Erst gibt es einen Hype, dann die Enttäuschung.“
Auch die Technik hat ihre Tücken. Je länger eine Blockchain wird, desto mehr Speicherplatz ist erforderlich. Und Computerprotokolle, die Verträge abbilden oder überprüfen, benötigen immense Mengen an Energie. Hinzu kommt: Nicht alle Technologien sind bereits reif für die Anwendung. Auch lässt sich nicht jede Fragestellung mit Blockchains optimal beantworten. Es ist also Ernüchterung eingekehrt – Potenzial hat die Technologie aber trotzdem und der Stand dieses Artikels wird schon in ein paar Jahren veraltet sein. Warten wir ab.
Bildquelle: Markus Spiske, unsplash