Varianten von SARS-CoV-2 nehmen überhand. Wie genau sind wir an diesem Punkt gelandet? Und: Was hat der Impfschutz damit zu tun? Ein Blick in die aktuelle Studienlage.
Die von SARS-CoV-2 ausgelöste COVID-19-Pandemie dauert mittlerweile über ein Jahr an. Nicht nur in letzter Zeit sorgen die entstandenen Varianten weltweit immer wieder für Schlagzeilen. Die Evolution des Virus zu verstehen, ist – neben der laufenden Impfkampagne und den etablierten Schutzmaßnahmen – entscheidend, um die Pandemie endlich einzudämmen.
Das PNAS hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die sich mit genau diesem Thema auseinandersetzt. Dazu hat das Forscherteam bis Anfang des Jahres alle verfügbaren SARS-CoV-2-Genome gesammelt und einen globalen phylogenetischen Stammbaum basierend auf dem Teile-und-herrsche-Verfahren erstellt. Insgesamt wurden so 175.875 einzigartige Sequenzen des Virus identifiziert, wovon 98.090 hochwertige Sequenzen in ein global multisequence alignment (MSA) integriert wurden. Dabei wurden Muster wiederholter Mutationen entlang des Baums analysiert, um die Punkte zu identifizieren, die einer positiven Selektion unterzogen wurden. Das Ziel der Forscher war, über die Erfassung solcher adaptiver Mutationen die Signaturen evolutionärer Einteilung von SARS-CoV-2 zu erfassen.
Insgesamt wurden, zusammen mit drei divergenten Kladen, acht Hauptpartitionen innerhalb des Baums identifiziert. Dabei umfasste eine Klade die beiden Variants of Concern (VOC) Alpha und Beta. Der adaptive Charakter der SARS-CoV-2 Evolution scheint mit mehreren Aminosäureaustauschen über jeden Zweifel erhaben zu sein, schreiben die Autoren in ihrer Publikation. Dabei gebe es mehrere positiv selektierte Stellen im S-Protein, aber auch überraschenderweise mehrere positiv selektierte Stellen des N-Proteins. Die Forscher vermuten, dass diese adaptiven Substitutionen sich an der Kernlokalisation des N-Proteins beteiligen. Außerdem betonen sie, dass einige Mutationen, bei denen eine positive Selektion bestätigt wurde, bei verschiedenen Ereignissen gleichzeitig auftauchen, was somit ein robustes epistatisches Netzwerk zu bilden scheint.
Dabei beeinflussen globalisierende Faktoren die Selektion, einschließlich der erhöhten Virusfitness, die unter anderem durch positiv ausgewählte Aminosäuresubstitutionen im S-Protein (D614G) und N-Protein (R203K und G204R) verliehen wird. Zusätzlich suggerierten die Daten eine kontinuierliche Virusdiversifizierung innerhalb geographischer Regionen sowie eine Speziation. Die Autoren vermuten, dass die laufende Diversifikation die Pandemie verlängern kann. Innerhalb der Impfkampagne werde die Notwendigkeit variantenspezifischer Impfstoffe immer wahrscheinlicher.
Des Weiteren zeigte die phylogenetische Analyse vier unterschiedliche Perioden, die auf der globalen Aufteilung des Baumes und dem Auftreten von Schlüsselmutationen basieren. Auf eine anfängliche Phase der schnellen Diversifizierung in regionenspezifische Phylogenien, die im Februar 2020 endete, folgte ein großes Extinktionsereignis und eine globale Homogenisierung mit der gleichzeitigen Verbreitung von D614G im Spike-Protein, die im März 2020 endete.
Die NLS-assoziierten Mutationen, die in unterschiedlichen positiven Selektionen auftraten, wurden im Zeitraum von März bis Juli prominenter, einer Phase des Stillstands in Bezug auf die interregionale Vielfalt, heißt es in der Publikation. Seit Juli 2020 traten dann im Zusammenhang mit der anhaltenden regionalen Diversifizierung mehrere Mutationen auf, wovon einige eine Immunevasion ermöglichen, was laut der Forscher auf eine Artbildung hindeuten könne.
Inwiefern sich die globale Impfkampagne auf die Virusdiversifizierung auswirkt, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ganz genau gesagt werden. Auch wie sich die Diversifizierung auf die Haltbarkeit des Impfschutzes auswirkt, ist noch ungewiss. Bekannt ist bereits, dass Evolutionen von Virusvarianten im Zusammenhang von immunselektiven Drücken in infizierten Wirten und natürlichen genetischen Drifts entstehen. Eine Preprint-Studie hat sich in Bezug auf SARS-CoV-2 mit genau diesem Thema befasst.
Ein amerikanisches Forscherteam führte in der retroperspektiven Studie longitudinale Analysen von über 1,8 Millionen SARS-CoV-2-Genomen aus 183 Ländern und Gebieten durch, um Impf-assoziierte virale Evolutionsmuster zu erfassen. Zusätzlich wurden virale Genomsequenzierungen an 23 Geimpften mit Durchbruchsinfektionen und 30 ungeimpften COVID-19-Patienten durchgeführt.
Auffällig war, dass auf Länderebene mit steigender Impfquote die Diversität der SARS-CoV-2-Linien abnahm. Bei der Analyse der Virusgenome zeigte sich außerdem eine 4,3-fach höhere Anreicherung der Mutationsprävalenz bei 220 bekannten neutralisierenden B-Zell-Epitopen, wohingegen die T-Zell-Epitope aus statistischer Sicht nicht stärker mutiert erschienen. Zudem war die Diversität der SARS-CoV-2-Genome in den B-Zell-Epitopen in Patienten mit Durchbruchsinfektionen signifikant um das 2,3-Fache geringer als in ungeimpften COVID-19-Patienten. Laut den Autoren suggerieren die Ergebnisse, dass durch die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 die evolutionären und antigenen Fluchtwege für das Virus einschränkt werden.
Jede Studie hat ihre Limitierungen, insbesondere in Bezug auf die Methodik und Stichprobengröße. Zudem handelt es sich in beiden Studien um deskriptive Studien, die nicht die derzeitige Lage wiedergeben. Da Viren innerhalb kürzester Zeit mutieren können, sind auch die Daten, die überwiegend den Zeitraum des letzten Jahres widerspiegeln, nicht ganz aktuell. Zudem weisen die Forscher darauf hin, dass die untersuchte Liste der B-Zell- und T-Zell-Epitope im Spike-Protein möglicherweise nicht ganz vollständig sei. Natürlich wurden auch nicht alle viralen Genome von COVID-19-Infektionen erfasst. Um diese Limitierungen aufzuheben, wäre eine ständige unabhängige und landesweite Aktualisierung hilfreich.
Trotz ihrer Limitierungen geben beide Studien Ausblick auf das Ausmaß der Virusadaption von SARS-CoV-2. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Impfung hilfreich sein kann, um die Virusadaption einzudämmen.
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