MEINUNG | Die Zahl an Corona-Infektionen steigt wieder. Was sinkt, ist die Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Unsere europäischen Nachbarn trauen sich in Sachen Impfpflicht deutlich mehr. Wann ziehen wir endlich nach?
„Das Virus macht keine Pause“, so Angela Merkel bei einer Pressekonferenz am 13. Juli. „Die Pandemie ist nicht vorbei.“ Beherrschbar werde die Situation erst, wenn 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen vollständig geimpft seien, so die Bundeskanzlerin. Bei Personen über 60 Jahren will sie – mit Bezug auf RKI-Zahlen – sogar 90 Prozent erreichen.
Doch davon sind wir weit entfernt. Laut offiziellen Zahlen sind erst knapp 49 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft, und 61 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten. Das ist wenig, liegt aber kaum noch am Impfstoff. Mittlerweile bestellt so manche Praxis weniger Dosen, als sie könnte, und in Impfzentren gibt es plötzlich freie Termine.
Doch Druck will Merkel nicht ausüben, schließlich naht die Bundestagswahl. „Es gibt keine Absicht, eine solche Pflicht einzuführen“, so die Bundeskanzlerin. Die Wunderwaffe des Bundesgesundheitsministeriums, das „Impfbuch für alle“, scheint keinen wirklichen Erfolg gebracht zu haben. Und Social-Media-Kampagnen waren bislang auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Andere Länder machen längst Nägel mit Köpfen. So hat Frankreichs Regierung am Wochenende eine Impfpflicht für Mitarbeiter von Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen gebilligt. Wer sich bis 15. September nicht schützen lässt, muss mit Sanktionen rechnen. Präsident Emmanuel Macron will verhindern, dass während einer weiteren Welle im Herbst Health Professionals infiziert werden und dass die Versorgung zusammenbricht.
Kurz zuvor hatte bereits Griechenland eine Impfpflicht für den Gesundheitssektor angekündigt. „Wir werden das Land wegen der Haltung einiger nicht wieder schließen“, sagte Premier Kyriakos Mitsotakis im Fernsehen. Und Italien hat solche Regelungen schon seit Mai. Nur Deutschland zögert.
Deutschlands Ethikrat liefert genau die Botschaften, die man erwartet. Im ZDF sagt die Vorsitzende Alena Buyx, eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sei in Deutschland unnötig. Zwar habe Ethikrat vorsichtig erklärt, unter bestimmten Umständen könnte man über solche berufsbezogenen, sehr eng begrenzten Impfpflichten nachdenken. „Allerdings würde ich sagen, dass diese Umstände gar nicht zutreffen“, so Buyx weiter. Sie will „Impfungen dorthin bringen, wo Leute sind“.
Es gibt auch andere Meinungen. Der Humangenetiker Wolfram Henn, ebenfalls Mitglied im Ethikrat, fordert eine Impfpflicht für Lehrer und Erzieher, denn manche würden sich derzeit weigern. „Wir brauchen eine Handhabe gegen diese wenigen renitenten Leute, die dann auch andere gefährden“, so Henn. Buyx erklärte umgehend, es handele sich um eine private Meinung. Alles bleibt beim Alten – man hört Bedenken, aber keine wirklich neuen, konstruktiven Lösungen. Die Ethikrat-Vorsitzende bringt lediglich als Vorschlag, Restriktionen nicht schnell aufzuweichen: „Ich würde sagen, wir sollten da ein Stückchen zurückhaltender sein.“ Ob das ausreicht, um die nächste Welle ab Herbst zu bremsen, sei dahingestellt.
Nun ist der Ethikrat für seine vorsichtig formuliert zurückhaltende Art bekannt. Er hat jedoch nur beratende Aufgaben; Entscheidungen kommen von der Politik. Und die ist im Moment am zögerlichsten, denn es ist Wahlkampfzeit.
Das gilt nicht nur für Angela Merkel. Auch Karl Lauterbach ist angesichts der französischen Impfpflicht bemüht, Land zu gewinnen. Auf Twitter schreibt der SPD-Gesundheitsexperte: „Das sollten wir nicht tun. Unsere Politik würde voll wortbrüchig, unsere Glaubwürdigkeit wäre verloren. Impfgegner würden sagen, dass es so beginnt.“ Und das ist der Punkt: Es geht nicht um Fakten.
Es geht – wohlgemerkt bis zum Urnengang – darum, kein mögliches Wählergrüppchen vor den Kopf zu stoßen. Warten wir auf September.
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