Infolge eines Schlaganfalls können viele Betroffene sich selbst und ihre Umgebung nur noch zur Hälfte wahrnehmen. Neuropsychologen haben nun ein Verfahren entwickelt, das mithilfe einer elektrischen Stimulation die Symptome der Patienten spürbar verbessert.
Rund 250.000 Menschen erleiden in Deutschland jedes Jahr einen Schlaganfall: Viele Betroffene haben Schwierigkeiten, die Seite ihrer Umgebung und ihres Körpers wahrzunehmen, die der Hirnläsion gegenüberliegt. Die meisten dieser sogenannten Neglect-Patienten haben einen größeren Infarkt in der rechten Gehirnhälfte erlitten und sind auf der linken Seite in der Wahrnehmung eingeschränkt. Deshalb vernachlässigen sie alles, was sich in ihrer linken Sicht- und Körperseite abspielt: Sie stoßen gegen Hindernisse, die sich auf der linken Seite befinden, pflegen nur die rechte Gesichtshälfte oder können Dinge nicht oder nur schwer finden, wenn sie auf der linken Seite liegen. Dennoch sind sich die betroffenen Patienten meistens ihrer Defizite nicht bewusst und empfinden ihr Verhalten zunächst als normal. Klinische Neuropsychologen von der Universität des Saarlands haben nun im Rahmen einer klinischen Studie [Paywall] ein Therapieverfahren erprobt, das die visuellen Beeinträchtigungen dieser Patienten verringert und diesen hilft, wieder ein Gespür für ihre linke Körperseite zu entwickeln. Wie die Forscher um Georg Kerkhoff und Karin Oppenländer in der Fachzeitschrift Neuropsychologia mitteilen, stimuliert das neue Verfahren das Gleichgewichtssystem mit leichten elektrischen Strömen. Für die Galvanisch-Vestibuläre Stimulation (GVS) verwenden die beiden Forscher und ihr Team kleine Elektroden, die sie hinter beiden Ohren eines Patienten anbringen. Den Gleichstrom liefert eine 9-Volt-Blockbatterie. „Bei diesem Verfahren wird die Stromstärke so eingestellt, dass der Patient den Stromfluss noch nicht spürt, erklärt Kerkhoff, Inhaber des Lehrstuhls Klinische Neuropsychologie und Leiter der Neuropsychologischen Universitätsambulanz an der Universität des Saarlands.
An der Studie nahmen 24 Patienten teil, die alle einen rechtsseitigen Schlaganfall erlitten hatten. Die Probanden mussten vier Aufgaben lösen, mit deren Hilfe vor allem ihre visuell-räumlichen Fähigkeiten getestet wurden: So suchten sie Zahlen auf einem Bildschirm oder einem Blatt Papier, zeichneten vorgegebene Bilder, wie zum Beispiel ein Haus oder eine Uhr, ab, schrieben einen kurzen Text ab und markierten die Mitte einer horizontalen Linie. Zuerst bearbeiteten die Studienteilnehmer die Aufgaben des Tests während einer Scheinstimulation. Je nachdem, wie erfolgreich sie dabei waren, wurden sie für jede der Aufgaben entweder in die Gruppe der Patienten mit Neglect oder in die Gruppe der Patienten ohne Neglect eingeteilt. Nach zwei und nochmals nach vier Tagen wiederholten alle Probanden den Test während einer Stimulation mit Gleichstrom, der durchschnittlich eine Stärke von 0,7 Milliampere hatte. Das eine Mal war der Pluspol des Stromkreises hinter dem linken Ohr und der Minuspol hinter dem rechten Ohr befestigt, das andere Mal war die Reihenfolge umgekehrt. Alle Stimulationen dauerten jeweils rund 20 Minuten. Die GVS-Therapie wirkte sich positiv auf die visuell-räumlichen Fähigkeiten der Studienteilnehmer mit einem Neglect aus: „Während der Stimulation zeigten diese Patienten im Vergleich zur Scheinstimulation eine um 30 bis 50 Prozent verbesserte Leistung in den verschiedenen Aufgaben“, sagt Kerkhoff. „Die Patienten konnten die vernachlässigte linke Seite wieder verstärkt wahrnehmen.“ Bei den Studienteilnehmern ohne Neglect, so der Neuropsychologe, habe die Therapie keinen nennenswerten Effekt gezeigt. Interessanterweise waren die erzielten Effekte für die verschiedenen Aufgaben abhängig von der Polung der Elektroden: War der Pluspol während der Stimulation hinter dem linken Ohr angebracht, konnten die Patienten besser Texte kopieren und die Mitte der horizontalen Linie markieren. War der Pluspol dagegen hinter dem rechten Ohr angebracht, konnten die Patienten die anderen beiden Aufgaben besser lösen.
Die den Neglect verursachenden Läsionen finden sich hauptsächlich im Kortex im Übergang zwischen Temporal- und Parietallappen: „Diese Region gewährleistet die Repräsentation der linken Körperhälfte und der Umgebung, die sie umgibt“, erklärt Kerkhoff. „Sie ist mit anderen Gehirnregionen im Thalamus oder in den Basalganglien verbunden.“ Wenn diese subkortikalen Regionen beschädigt seien, so der Neuropsychologe, könne das ebenfalls zu einem Neglect führen. Die elektrischen Ströme, die während der Stimulation fließen, aktivieren den Gleichgewichtsnerv, der vom Ohr zum Stammhirn führt, welches wiederum über den Thalamus mit dem temporoparietalen Kortex verbunden ist. „Was die Aktivierung des Nervs auf molekularer Ebene in den geschädigten Hirnregionen genau bewirkt, wissen wir im Moment nicht“, sagt Kerkhoff. „Im Rahmen der Studie haben wir die geschädigten Hirnregionen der Neglect-Patienten nicht mit bildgebenden Verfahren untersucht, sondern nur getestet, ob sich das Verhalten dieser Patienten durch die GVS-Therapie verändert.“ Ebenfalls unklar ist auch, ob der positive Effekt der Stimulation länger anhält, denn so Kerkhoff: „Im ersten Schritt haben wir nur geschaut, ob die GVS-Therapie überhaupt funktioniert, im nächsten Schritt wollen wir herausfinden, wie dauerhaft ihre Wirkung auf den Patienten ist und ob man durch eine wiederholte Anwendung die Wirkung verstärken kann.“
Andere Experten stehen dem neuen Therapieansatz positiv gegenüber: „Das Verfahren ist einfach zu handhaben und scheint keine Nebenwirkungen zu haben“, sagt Antje Kraft von der Klinik für Neurologie an der Berliner Charité. „Es eignet sich gut zur Behandlung von Neglect-Patienten in der ersten Phase nach dem Schlaganfall, wenn diese noch keine Einsicht in ihre Defizite haben und eines Therapieansatzes bedürfen, bei welchem sie nicht aktiv mitarbeiten müssen.“ Allerdings, so die Wissenschaftlerin, sei die Patientengruppe sehr klein und sehr heterogen gewesen. Sie plädiert deshalb für eine multizentrische Studie mit einer großen Patientengruppe. Im Rahmen einer solchen Studie, findet Kraft, könne auch mit bildgebenden Verfahren geschaut werden, ob sich im Verlauf der Behandlung neue Verknüpfungen zwischen den Hirnregionen bildeten. Originalpublikation: Subliminal galvanic-vestibular stimulation influences ego- and object-centred components of visual neglect [Paywall] Oppenländer K. et al; Neuropsychologia, doi: 10.1016/j.neuropsychologia.2014.10.039; 2014