ASS ist in den USA sprichwörtlich in aller Munde. Jeder zweite Amerikaner nimmt regelmäßig Acetylsalicylsäure ein, um kardiovaskulären Risiken vorzubeugen. Auch Krebsrisiken soll ASS verringern. Dem stehen Blutungsrisiken gegenüber: Zeit für eine kritische Bewertung.
In den USA sind etliche OTCs nicht apothekenpflichtig, allen voran ASS. Grund genug für Hersteller, noch stärker als bei uns Kampagnen zu lancieren, um ihre Produkte an Endverbraucher zu bringen. Um genauere Informationen zu erhalten, hat Craig Williams, Apotheker an der Oregon State University, 2.059 Personen nach ihren Gewohnheiten befragt. Erschreckend: Etwa 52 Prozent schlucken regelmäßig Acetylsalicylsäure – in ganz unterschiedlichen Dosierungen. Weitere 21 Prozent gaben an, das Pharmakon früher regelmäßig eingenommen zu haben.
Williams fand heraus, dass unter allen Befragten nur 470 Personen tatsächlich an kardiovaskulären Erkrankungen litten. Bei ihnen gibt es – wenn auch strittige – Studien zur Applikation. Ansonsten lagen vermeintliche Risikofaktoren vor, die eine Chemoprophylaxe Leitlinien zufolge nicht rechtfertigen. Der Knackpunkt: Konsumenten hatten über Massenmedien von heilsamen Effekten gehört oder falsche Ratschläge von medizinischem Personal erhalten. Aufgrund der fehlenden Apothekenpflicht fehlt amerikanischen Pharmazeuten die Möglichkeit, zu intervenieren – eine Warnung für Deutschland.
Damit nicht genug: Momentan landen in den US-Medien immer wieder Berichte, dass ASS protektiv gegen unterschiedliche Krebserkrankungen wirkt. Laien sind begeistert und schlucken die Tabletten, ohne sich groß den Kopf zu zerbrechen. Hinter entsprechenden Meldungen stecken häufig prospektive Beobachtungsstudien. Aktuellstes Beispiel ist eine Veröffentlichung von Yin Cao und Andrew Chan. Beide Forscher arbeiten an der Harvard Medical School, Boston. Nahmen Patienten mindestens zwei standardisierte Aspirin-Tabletten pro Tag ein, verringerte sich ihr Risiko, an Krebs zu versterben. Als Basis dienten verschiedene Kohorten mit 82.600 Frauen und 47.651 Männern. Besonders deutlich war der Effekt bei malignen Erkrankungen des Magens beziehungsweise des Ösophagus (minus 14 Prozent) und des Darms (minus 25 Prozent). Allerdings zeigten sich besagte Effekte erst nach mindestens 16-jähriger Einnahme des Wirkstoffs.
Harvey A. Risch von der Yale School of Public Health in New Haven hat sich wissenschaftlich mit Pankreaskarzinomen befasst. Für eine Studie rekrutierte er 363 Patienten und 690 Kontrollpersonen. Das Resultat fällt vergleichsweise deutlich aus: Wer regelmäßig Low-Dose-ASS schluckte, etwa zur Prävention kardiovaskulärer Risiken, verringerte sein Pankreaskarzinom-Risiko um 48 Prozent. Nach dem Einnahmestopp schnellte dieser Wert rasch nach oben – ungewöhnlich stark. Ein möglicher Bias: Patienten setzen das Pharmakon ab, weil sie vermeintliche Nebenwirkungen spüren, die aber schon auf Tumoren zurückzuführen sind. Dazu gehören Risch zufolge Geschmacksstörungen oder gastrointestinale Probleme. Dem gegenüber stehen gastrointestinale Blutungen.
Neue Veröffentlichungen zeigen, dass hier Vorsicht geboten ist. Wissenschaftler sammelten zwischen 2002 bis 2011 Daten von mehr als 60.000 Herzinfarkt-Patienten. Sie erhielten unter anderem ASS, Clopidogrel und oralen Antikoagulanzien. Gleichzeitig nahmen sie NSAIDs ein. Erfasst wurden Blutungsereignisse, jeweils auf 100 Personenjahre normiert. Dieser Wert betrug unter einer antithrombotischen Therapie 2,2 Prozent. Bei gleichzeitiger Einnahme von NSAIDs und Antikoagulanzien waren es schon 4,2 Prozent. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl kardiovaskulärer Ereignisse von 8,3 auf 11,2 Prozent. Die Autoren weisen Apotheker darauf hin, im Zuge ihres Medikationsmanagements NSAIDs besser zu vermeiden beziehungsweise ASS nur leitliniengerecht einzusetzen.
Apropos ASS: Wissenschaftler versuchen schon lange, Patienten zu identifizieren, die trotz erwiesener Blutungsrisiken von ASS profitieren. Beim Thema Darmkrebs ist es Andrew Chan gelungen, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er verglich das Erbgut von 8.634 Personen, die an Darmkrebs litten, mit Sequenzdaten von 8.553 gesunden Probanden. Und siehe da – zwei Einzelnukleotid-Polymorpismen (SNPs) auf den Chromosomen 12 und 15 waren auffällig. Ein SNP befindet sich in der Nähe von DNA-Abschnitten, die für Enzyme des Prostaglandin-E-Stoffwechsels codieren. ASS beziehungsweise NSAIDs verringertes das Krebsrisiko um 34 Prozent (Genotyp TT). Lagen die Kombinationen AA oder TA vor, erhöhten besagte Arzneistoffe das Risiko jedoch um 89 Prozent. Wissenschaftliche Erklärungen gibt es momentan nicht. Ein weiterer SNP lag in Regionen, die mit Interleukin 16 assoziiert sind. Hier erkrankten Träger der Variante AA um 34 Prozent seltener an Darmkrebs, falls sie entsprechende Arzneistoffe einnahmen. Große Hoffnungen auf Gentests zerplatzen trotzdem wie die berühmte Seifenblase, weil protektive Genotypen bei einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung vorliegen. Durch Screenings lässt sich der Personenkreis momentan kaum einschränken.