Der Wirkstoff Dextromethorphan, der in vielen rezeptfreien Hustensäften enthalten ist, kann den Blutzuckerspiegel senken – womöglich ohne Hypoglykämierisiko. In der Bauchspeicheldrüse regt er die Betazellen dazu an, mehr Insulin zu produzieren und verlängert deren Lebensdauer.
Die Forscher um Prof. Dr. Eckhard Lammert [Paywall], Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, testeten, welche Funktion die zu den Glutamatrezeptoren gehörenden NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren) in der Bauchspeicheldrüse haben. Im Nervensystem kommen diese Rezeptoren auch vor und sind dort an der Signalübertragung beteiligt. Ob die NMDA-Rezeptoren in der Bauchspeicheldrüse auch den Insulin-Stoffwechsel beeinflussen, war bisher nicht bekannt.
Schüttet der Körper zu wenig Insulin aus, kann der Blutzuckerspiegel rasant in die Höhe schnellen. Das kann akut zu einem hyperglykämischen Koma oder längerfristig zu Organschäden führen. Bei Typ-1-Diabetikern sind daran Autoimmunreaktionen schuld, so dass die Insulin-produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse sukzessive absterben. Ein Typ-2-Diabetes entsteht, weil die Betazellen nicht mehr ausreichend Insulin produzieren oder die Insulinrezeptoren nur noch vermindert auf Insulin reagieren. Diabetes-Medikationen regen daher entweder die Insulinsekretion der Betazellen an, oder verbessern die Insulin-Antwort der Zielzellen des Insulins. Das Problem: In den allermeisten Fällen schreitet die Krankheit unaufhörlich fort, die Betazellen produzieren immer weniger Insulin oder sterben vollständig ab. Die Folge: Mit zunehmender Krankheitsdauer ist der Patient auf eine immer umfassendere Medikation angewiesen.
Die Wirkung von Dextromethorphan auf das Nervensystem ist bereits gut dokumentiert. Dort blockiert der Wirkstoff die NMDA-Rezeptoren und unterdrückt auf diese Weise den Hustenreiz. Doch bisher wusste man nicht genau, ob die NMDA-Rezeptoren in den Betazellen auch mit dem Kohlenhydratstoffwechsel in Verbindung stehen. Darum testeten die Wissenschaftler den allgemein gut verträglichen Wirkstoff aus dem Hustensaft nun auch bei den Rezeptoren dieser Zellen.
Um die Wirkung von Dextromethorphan auf die NMDA-Rezeptoren der Betazellen zu untersuchen, fuhren die Wissenschaftler mehrgleisig: Zunächst schalteten sie die Rezeptoren in Tumorzellen des Pankreas und in Bauchspeicheldrüsen von Mäusen aus. In einem nächsten Schritt blockierten die Forscher die Rezeptoren medikamentös in Tumorzellen des Pankreas, in Betazellen von Maus und Mensch, bei diabetischen Mäusen und Menschen mit einem Typ-2-Diabetes. Der Nüchternblutzucker blieb von der Blockade der NMDA-Rezeptoren unberührt. Die Glukose-Toleranz und die Glukose-stimulierte Insulin-Ausschüttung wurden jedoch verbessert. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass NMDA-Rezeptoren dazu beitragen, die Glukose-stimulierte Insulin-Sekretion zu regulieren“, schreiben die Forscher.
Da die Rezeptoren offenbar keine Auswirkung auf die Ausschüttung von Basalinsulin haben, eignen sie sich laut den Wissenschaftlern besonders gut als Angriffspunkt neuer Antidiabetika. Wirkstoffe, die neben der Glukose-stimulierten Insulin-Sekretion auch die Basalinsulin regulieren, bergen nämlich stets die Gefahr, lebensgefährliche Hypoglykämien hervorzurufen. Die wohl bekanntesten Vertreter dieser Wirkstoffgruppe sind die Sulfonylharnstoffe, die nur noch dann verschrieben werden sollten, wenn andere Wirkstoffe kontraindiziert sind.
Als die Wissenschaftler die NMDA-Rezeptoren in der Bauchspeicheldrüse blockierten, konnten sie außerdem beobachten, dass die Betazellen in Typ-2-diabetischen Mäusen dadurch länger lebten und ihre Funktion länger aufrechterhielten. Auch für Menschen mit einem frühen Typ-1-Diabetes könnte die Blockade der NMDA-Rezeptoren interessant sein. Prof. Dr. Eckhard Lammert, Leiter des Instituts für Stoffwechselphysiologie der HHU und des Instituts für Betazellbiologie am Deutschen Diabetes Zentrum, dazu: „Wir werden längerfristig unter ärztlicher Aufsicht untersuchen, ob die Gabe von Dextromethorphan bei Typ-1-Diabetikern während der Frühphase der Erkrankung eine Insulinfreiheit herbeiführen kann.“ Ein NMDA-Rezeptor-Hemmer würde die Gruppe der bereits verfügbaren Antidiabetika sinnvoll ergänzen. Lammert dazu: „GLP-1R Agonisten müssen generell injiziert werden. Und DPP-4-Hemmer können zwar oral eingenommen werden, aber ihre Wirkung ist nicht so stark. Vermutlich wäre eine Kombination von NMDAR-Hemmer (oral) und DPP-4 Hemmer sinnvoll, um den Effekt von letzterem zu verstärken. Was noch fehlt sind Langzeitstudien mit NMDAR-Hemmer.“ Genau deshalb mahnt Lammert noch zur Vorsicht: „Ich rate sehr davon ab, eine Selbstmedikation vorzunehmen. Ob ein Arzt im Einzelfall einen Heilversuch bei einem Patienten mit Typ-1-Diabetes in der Honeymoon-Phase vornehmen möchte, liegt in der Verantwortung und in dem Ermessen des behandelnden Arztes.“ Für diesen Ansatz arbeitet seine Arbeitsgruppe gerade an einem Studienprotokoll. Originalpublikation: Characterization of pancreatic NMDA receptors as possible drug targets for diabetes treatment [Paywall] Jan Marquard et al.; Nature Medicine, doi:10.1038/nm.3822; 2015