Offenbar bessert der omnipräsente Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung nicht das subjektive Gesundheitsempfinden der Bevölkerung. Trotz des medizinischen Fortschritts fühlen sich die Menschen kränker als vor 25 Jahren. Was läuft falsch bei den gefühlt Kranken?
Eigentlich müsste sich der Großteil der Bevölkerung in den westlichen Ländern gesünder fühlen als vor 25 Jahren. Denn in dieser Zeit haben sich sowohl die medizinische Diagnostik als auch die Therapiemöglichkeiten stetig weiterentwickelt. Durch moderne molekularbiologische Methoden lassen sich Krankheiten in vielen Fällen bereits vor ihrem Ausbruch aufspüren – gefährdete Brüste beispielsweise bereits vor der Diagnose „Krebs“ amputieren. Auf den Ultraschallbildern von Föten lassen sich heutzutage sogar die Wimpern zählen, und abmessen, ob der Kopf bei der Geburt durchs Becken passen wird. Die Gendiagnostik verrät, ob es vor Erbkrankheiten in der Familie verschont geblieben ist. Falls nicht, kann frühzeitig gehandelt werden.
Außerdem dürfen immer mehr Menschen alt werden, dank der modernen Medizin sogar mit einer hohen Lebensqualität. Natürlich verschleißt der Körper hier und da, doch neue Gelenke fesseln Frischoperierte nicht mehr wochenlang ans Bett. Denn zahlreiche Operationen können heute minimalinvasiv und daher besonders schonend für den Patienten durchgeführt werden. Eigentlich sollten sich die Menschen besser als vor 25 Jahren fühlen. Doch das tun sie nicht. Das fand ein Wissenschaftler der Ohio State University heraus. Prof. Hui Zheng verglich mehrere große, multinationale Daten (OECD Health Data, World Development Indicators, der World Values Survey und die European Values Study), aus denen er ablesen konnte, wie Menschen ihren Gesundheitszustand zwischen 1981 und 2007 auf einer Fünf-Punkte-Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (sehr schlecht) beurteilt hatten. Die Daten korrelierte er mit der medizinischen Entwicklung in 28 Ländern, die alle Mitglieder der Organization for Economic Co-operation and Development (OECD) sind.
Zheng untersuchte drei Arten der medizinischen Entwicklung: Das medizinische Investment, also wie viel Geld pro Kopf und für die Gesamtbevölkerung eines Landes für Gesundheitsleistungen ausgegeben wurden. Der nächste Punkt auf Zhengs Liste waren die medizinische Professionalisierung und Spezialisierung. Dazu gehört beispielsweise die Anzahl der praktizierenden Ärzte und Spezialisten. An dritter Stelle standen die Pro-Kopf-Ausgaben für pharmazeutische Produkte. Sein ernüchterndes Ergebnis: „Der Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung verbessert unser subjektives Gesundheitsempfinden nicht. In den USA beispielsweise sank die Zahl der Menschen, die ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ bewerteten von 39 Prozent im Jahr 1982 auf 28 Prozent im Jahr 2006“, so Zheng. In Deutschland sehen die Zahlen etwas besser aus: 1989 bewerteten die Menschen ihren Gesundheitszustand im Durchschnitt mit 3,63 (1= sehr schlecht, 5 = sehr gut), im Jahr 2006 immerhin minimal besser mit 3,82. Gefühlt gesünder scheint der medizinische Fortschritt aber auch die Deutschen nicht gemacht zu haben.
Zheng ging noch weiter. Anhand der Daten simulierte er ein alternatives Szenario. In seinem Modell ließ er die medizinische Entwicklung auf dem Stand von 1982 stagnieren. Andere Faktoren wie die ökonomische Entwicklung eines Landes, die üblicherweise mit einer besseren Gesundheitsversorgung einhergehen, ließ er unangetastet. Unter diesen Voraussetzungen würden sich die Menschen heute in allen 28 Ländern gesünder fühlen, so das Ergebnis der hypothetischen Analyse. Dann hätten immerhin 38 Prozent der Amerikaner ihren Gesundheitszustand im Jahr 2006 als „sehr gut“ bezeichnet. „Man kann das kaum glauben, aber die Datenlage ist eindeutig: Eine bessere medizinische Versorgung hilft der Bevölkerung nicht, sich gesünder zu fühlen – ein herber Schlag!“, so Zheng.
In seiner Studie berücksichtigte Zheng auch Faktoren, die nicht direkt zur medizinischen Entwicklung zählen, die Gesundheit der Menschen aber trotzdem beeinflussen können. Dazu zählen beispielsweise die ökonomische Entwicklung eines Landes und die Lebenserwartung bei der Geburt. Zheng bezog auch individuelle Faktoren wie Ausbildungs- und Familienstand sowie die Einkommenshöhe in seine Analyse mit ein. Und trotzdem verbesserte sich das Ergebnis nicht. Fortschritte im Bereich der medizinischen Investitionen, der Spezialisierung und Pharmazeutika waren nach wie vor mit einem schlechteren subjektiven Gesundheitsempfinden der Menschen über die Jahre hinweg assoziiert. „Alle unsere augenscheinlichen Verbesserungen im Gesundheitssystem bewirken offenbar genau das Gegenteil“, fasst Zheng seine Studienergebnisse zusammen.
Zheng vermutet gleich mehrere Gründe als Ursache für dieses Phänomen: „In den letzten Jahren wurden mehr Krankheiten entdeckt oder „erschaffen“, von denen die Menschen vor knapp 40 Jahren noch gar nichts oder wenig wussten. Ich denke da zum Beispiel an ADHS, das Burnout-Syndrom und Autismus.“ Außerdem würden die Vorsorgescreenings immer intensiver betrieben, so Zheng. Das führe dazu, dass auch mehr Krankheiten als früher entdeckt würden. „Überdiagnose kann gesunden Menschen möglicherweise auch schaden“, so der Wissenschaftler.
Auch das Anspruchsdenken der Menschen könnte mit der medizinischen Entwicklung gestiegen sein. „Die Menschen erwarten vielleicht zu viel vom Gesundheitssystem, einen unrealistisch perfekten Gesundheitszustand“, führt Zheng weiter aus. Der Beginn eines Teufelskreises: „Weil die Anforderungen an die eigene Gesundheit immer weiter steigen, fühlen sich die Menschen immer schlechter und verlangen dem Gesundheitswesen immer mehr ab.“ In einer früheren Studie [Paywall] hatte Zheng bereits gezeigt, dass das Vertrauen der Amerikaner in ihr Gesundheitswesen in den letzten 30 Jahren – während der Zeit des großen medizinischen Fortschritts – gesunken ist. „Das Vertrauen der Menschen, egal welchen Geschlechts, Alters, Einkommensklasse oder einer anderen Gruppenzugehörigkeit, hat etwa in gleichem Maße abgenommen wie ihr gefühlter Gesundheitszustand“, so Zheng. Warum das so ist, kann der Forscher nur mutmaßen: Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens sei ein wesentlicher Faktor für den Vertrauensverlust, sagt er. „Das Vertrauen schwindet, sobald die Menschen das Gefühl haben, Ärzte behandeln mehr nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten als nach den Anforderungen des Patienten.“ Originalpublikation: Why has medicine expanded? The role of consumers Hui Zheng; Vorab-Online-Version. Studie erscheint im Juli 2015 in der Fachzeitschrift Social Science Research.