Ich bin wütend. Die Zweitdosis Biontech steht für meine Patienten an, aber der Impfstoff fehlt. Außerdem bin ich auf ein neues Problem gestoßen, was die Zusatzdosen betrifft.
Ich halte das Fax von der KV in Händen und merke, wie ich wütend werde. „Impfrekord“, heißt es da. „Alle Zweitimpfungen konnten trotz knapper Impfstoffe durchgeführt werden.“ In unserer Praxis jedenfalls nicht. Aber der Reihe nach.
Meine telefonische Odyssee beginnt am Donnerstagnachmittag, sowieso ein stressiger Tag in vielen Hausarztpraxen. Offene Sprechstunde, Rückrufe, die noch vor Freitag erledigt werden müssen, Laborberichte und viele Patienten, die es vorm Wochenende nochmal in die Praxis schaffen wollten – es kommt viel zusammen. Was ich dann absolut nicht brauchen kann: Die Info, dass ich für die kommende Woche zwei Vials Impfstoff weniger bekomme, als ich bestellt hatte. Besonders ärgerlich ist, dass es um Zweitimpfungen geht. Wir sprechen hier also von 12 Patienten, die ich eigentlich komplett immunisieren könnte, wenn ich die Menge an Biontech bekommen hätte, die ich angefordert hatte.
Mein erster Impuls: Protest. Besteht für meine Patienten nicht ein Rechtsanspruch auf Zweitimpfung? Im Gespräch mit einer Kollegin, die außerdem Mitglied in der KV-Vertreterversammlung ist und weiß, wie der Hase in dieser Sache läuft, dann die Ernüchterung. Nein, ein Recht hat darauf leider keiner, auch wenn es im Prinzip so sein sollte. Ärgerlich, aber da lässt sich nichts machen. Immerhin bietet die Kollegin an, ein Vial aus ihrem Vorrat abzuzweigen. Sie ist Kinderärztin und braucht in dieser Woche nicht so viel Impfstoff, wie sie bekommen hat. Das Angebot nehme ich dankend an.
Weiter gehts mit dem nächsten Anruf, diesmal beim Bundesministerium. Der junge Mann in der Hotline kann mir nicht weiterhelfen – aber die Nummer von unserem Impfzentrum vor Ort kann ich ergattern. Nicht die Anmelde-Hotline, ich spreche sozusagen von der internen Nummer für's Hinterzimmer. Ich wähne mich schon siegreich, werde dann aber wieder enttäuscht: Nein, Termine könne man für Patienten keine machen. Wieder nichts. Aber noch lasse ich mich nicht entmutigen und melde mich beim Gesundheitsamt. Dort sollte eigentlich die Leiterin zu sprechen sein, aber eben nur eigentlich.
Bis zum Abend sei sie terminlich ausgebucht, das werde heute nichts. Nein, einen Rückruf könne man mir nicht zusichern, das ließe sich zeitlich nicht einrichten. Klar, denke ich mir, bin ja auch nur eine kleine Hausärztin, die im Angesicht einer Pandemie verzweifelt versucht, ihre Patienten durchzuimpfen. Warum sollte man mich da zurückrufen? Die Nummer vom lokalen Impf-Koordinator bekomme ich wenigstens. Aber: „Wahrscheinlich erreichen Sie den gar nicht“, prophezeit mir die Sekretärin sogleich. Sie sollte Recht behalten.
Ich bin mit meinem Latein langsam am Ende und wende mich an die letzte Instanz, von der ich mir jetzt noch etwas erhoffe: Das Landesministerium. An der Hotline sitzt ein sehr netter Herr, der mein verzweifeltes „Bitte nicht zurück in die Warteschleife!“ mit einem verständnisvollen Lachen quittiert. Immerhin, eine menschliche Regung. Weiterhelfen kann er mir trotzdem nicht. Gut, versuche ich es selbst unter der Zentralnummer des Landesministeriums. Über diverse Durchstellungen lande ich bei einer Dame, die etwas zu sagen hat. Und siehe da: Sie regt sich über die Situation mindestens genauso auf wie ich. „Es kann nicht sein, dass es erst heißt, alle Hausärzte sollen unbedingt impfen und dass sogar die Impfabstände angepasst werden, um möglichst schnell viele Menschen durchzuimpfen und dann kein Impfstoff lieferbar ist.“ Danke, denke ich mir nur.
Auch, dass Betriebsärzte jetzt munter Dosen für Erstimpfungen erhalten, während wir Hausärzte unseren Vials hinterherrennen müssen, sei ein Unding. Ich merke, bei ihr bin ich an der richtigen Adresse. Sie erklärt mir auch: „Die Vials werden nach Bund und Land getrennt. Ich darf also leider nicht einfach ein Vial, was für Einsatz auf Länderebene im Impfzentrum vorgesehen war, für einen Einsatz auf Bundesebene umdeklarieren und umgekehrt.“ Sie macht eine Pause und fügt dann den erlösenden Satz hinzu: „Ich setze da einen Mitarbeiter dran, der soll das mit Ihrem Impfzentrum vor Ort klären“, verspricht sie mir. Mit dem guten Gefühl, eine Verbündete zu haben, lege ich auf.
Mehr kann ich jetzt leider nicht tun, ich muss erst auf den Anruf aus dem Impfzentrum warten, bis ich weiß, wie viele Termine ich für meine Patienten nun bekomme. Das ist am Montag so weit, sechs Slots werden für meine Patienten freigegeben. Immerhin! Nächste Station: Alle infrage kommenden Patienten abtelefonieren – denn nicht alle sind geistig fit oder körperlich mobil genug, um überhaupt zum Impfzentrum zu kommen. Leider erreiche ich von den sechs Patienten, die infrage kommen, nur zwei. Ich informiere sie, dass das Impfzentrum sich bei ihnen melden wird und rufe dann genau dort auch wieder an. Der neue Stand der Dinge muss erklärt, Patientendaten müssen durchgegeben werden. Erwähnte ich, dass es inzwischen Montag ist und das heute bei Weitem nicht meine einzige Aufgabe ist? Nun ja.
Insgesamt hat mich die Aktion gut einen Arbeitstag gekostet, fast der komplette Donnerstagnachmittag und gut vier Stunden am Montag gingen dafür drauf. Und trotzdem habe ich nicht alle Zweitimpfungen vornehmen können, da kann die KV noch so viele Faxe schicken, die etwas anderes behaupten. Erschwerend kommt hinzu: Wir brauchen sowieso alle mehr Dosen für Zweitimpfungen. Denn zu Beginn der Impfkampagne, wir erinnern uns, war das Geschrei noch groß, möglichst zusätzliche Dosen aus den Vials zu ziehen.
Das haben wir konsequent gemacht und unsere Mitarbeiter entsprechend geschult. Das Ergebnis: Es gab de facto mehr Erstimpfungen, als die Vials auf dem Papier vermuten lassen. Das ist super und sollte eigentlich genauso laufen. Wenn es aber jetzt an den Zweitimpfungen scheitert, wie soll das Impfschema dann aussehen? Können wir bald bei den ersten Patienten wieder mit dem Auffrischen anfangen, weil sie uns – wenn es hart auf hart kommt – aus dem empfohlenen Impfintervall gerutscht sind? Das kann es doch echt nicht sein.
Und noch eine Beobachtung zum Abschluss: Meine MFA bekommen inzwischen keine siebte Dosis mehr aus den Biontech-Vials raus. Den Mitarbeitern eines Kollegen geht es ähnlich. Habt ihr das auch schon bemerkt? Zum ganzen Stress gesellt sich damit auch noch der böse Verdacht, dass das durchaus vom Hersteller kalkuliert ist. Denn die Bestellung – und damit Bezahlung – erfolgt schließlich per Dosis, nicht per Vial. Ein Schelm … ihr kennt den Rest.
Die Ärztin ist der Redaktion bekannt, möchte aber ungenannt bleiben. Aus Datenschutzgründen nennen wir auch bewusst nicht das Bundesland, in dem sich dieser Fall abgespielt hat.
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