Sommer, Sonne, Null-Inzidenz? Wie wichtig der Faktor Temperatur für das Sinken der Corona-Zahlen wirklich ist, war lange ein Rätsel. Jetzt zeigen Daten: Er ist bedeutender als bisher angenommen.
Sinken die Infektionszahlen in Deutschland so dramatisch, weil immer mehr Menschen geimpft sind – oder liegt es doch am guten Wetter? Diese Frage stellen sich derzeit viele, aber sie ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Ähnlichkeit zu anderen Viren, die beim Menschen harmlose Erkältungen auslösen, lässt zwar vermuten, dass auch SARS-CoV-2 bestimmte Klima- und Wetterbedingungen bevorzugt. Doch während in einigen Studien schon Assoziationen zwischen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und der COVID-19-Inzidenz nachgewiesen werden konnten, können andere Forschergruppen keinen Hinweis darauf finden.
Dabei ist es wichtig, die Rolle der Saisonalität bei COVID-19 herauszufinden. Wird sie unterschätzt – und gleichzeitig die Durchimpfung der Bevölkerung überschätzt –, dann könnte es dazu führen, dass weniger Vorkehrungen für einen möglichen Anstieg der Zahlen im Herbst getroffen werden.
Auch Christian Drosten rief auf Twitter schon zur Vorsicht auf: Um gerade 20 % reduziere „der Sommereffekt“ die Übertragung von SARS-CoV-2. Auf das gute Wetter verlassen sollte man sich deshalb nicht.
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Doch zumindest für gemäßigte Klimazonen scheinen sich jetzt die Hinweise zu verdichten, dass der Sommereffekt eine nicht unerhebliche Rolle bei der Eindämmung von SARS-CoV-2 spielt. Das zeigen Kulveit et al. von der Oxford Universität in ihrer aktuellen Untersuchung. Sie haben die Saisonalität und Übertragung von SARS-CoV-2 in 143 gemäßigten Klimazonen in Europa analysiert. Das Ergebnis: In der Zeit vom Winter bis zum Sommer reduziert sich die Übertragung im Median um 42,1 % (95 % CI: 24,7 % bis 53,4 %).
In ihrer Modellrechnung haben sich die Forscher nur auf einen einzigen Saisonalitätsparameter konzentriert. Dieser beschreibt die jährliche Schwankung der zeitvariablen Reproduktionszahl (Rt) für eine Klimaregion. Denn problematisch an der ganzen Sache sei, so die Autoren in der Einleitung ihrer Studie, dass „Saisonalität“ aus einem komplexen Netz verschiedener Faktoren bestehe. Temperatur, Luftfeuchtigkeit und UV-Strahlung beeinflussen die Übertragung und Inzidenz durch eine Reihe von biologischen und epidemiologischen Mechanismen. Dazu gehören die Stabilität des Virus, die Anfälligkeit und Immunreaktion des Wirts, das menschliche Verhalten, aber auch soziale Faktoren wie etwa Schulferien.
Diese Vielzahl mache es laut Kulveit et al. ziemlich schwierig, den Einfluss einzelner saisonaler Faktoren zu entschlüsseln, insbesondere angesichts der Wechselwirkungen zwischen Umwelt-, biologischen und Verhaltensfaktoren. Deswegen ist es auch schwierig, von den Bedingungen in Brasilien oder Indien auf einen möglichen Sommereffekt hierzulande zu schließen. Dort herrschen völlig andere klimatische Bedingungen – Temperatur ist dabei nur ein Faktor.
Anstatt dieses komplexe Netz zu entwirren, haben sich Kulveit et al. in ihrer statistischen Analyse deswegen nur auf diesen einzigen Saisonalitätsparameter konzentriert. Ihr Modell berücksichtigt zudem auch die nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPIs) zur Pandemiebekämpfung, wie etwa Ausgangssperren und Schulschließungen.
Die Forscher können so auch den Einfluss der Saisonalität mit dem der NPIs vergleichen: Der Übergang vom Winter zum Sommer ist mit einer größeren Reduktion der Übertragung assoziiert als die Effekte vieler einzelner Maßnahmen. Die Kombination vieler verschiedener Interventionen ist allerdings größer als der Effekt der Saisonalität – der Sommereffekt allein kann die Übertragung nicht stoppen, deswegen gibt es auch in den wärmeren Monaten Corona-Ausbrüche.
Die Autoren resümieren, dass die Erkenntnisse über die Saisonalität bei SARS-COV-2 dabei helfen können, die richtigen Vorbereitungen auf einen möglichen Anstieg der Infektionszahlen im Herbst oder Winter zu treffen. Und die Kenntnis über die Grenzen der Rolle, die Wetter- und Klimafaktoren spielen, kann dazu beitragen, eine übermäßige Abhängigkeit von saisonalen Schwankungen zu vermeiden und Strategien zur Eindämmung der Virusausbreitung zu fördern.
Bildquelle: Humphrey Muleba, unsplash