Zwei Dinge, die nicht gut zusammenpassen? Arztsein und Abschalten. Zumindest erwische ich mich im Urlaub immer wieder dabei, Dinge für die Praxis zu erledigen. Hier meine To-Do-Liste für die erholsamste Zeit des Jahres.
„Na, Herr Doktor, Sie waren mal wieder nicht da, und wir mussten – wie immer – zum Vertretungsarzt.“ Solche oder ähnliche passiv-aggressive Vorwürfe bekommen Ärzte gerne zu hören, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen. Dabei erfüllen wir doch lediglich Murphy's Law, wonach immer genau das eintritt, was am wenigsten erwartet wurde. Oder so ähnlich. Und schließlich geht es uns im Urlaub ähnlich wie den Lehrern. Urlaub ist eigentlich kein Urlaub. Nur patientenfreie Zeit. Zumindest beinahe. Dinge, die mich im Urlaub beschäftigen …
Noch so ein ungeschriebenes Gesetz: Die Abrechnung für die Praxis fällt immer in den Urlaub, ins lange Wochenende, mindestens aber auf einen Samstag. Und da jedenfalls direkt nach dem Urlaub bzw. am Montag unweigerlich das nächste Quartal beginnt, muss die Abrechnung in diesen Tagen gemacht werden. Außerdem setzt die Kassenärztliche Vereinigung eine Deadline, bis wann die Daten übermittelt sein müssen. Mit viel Augenzudrücken zwei Wochen. Blöd, wenn der Urlaub drei Wochen geht, dann muss das vorher erledigt werden.
Zur Abrechnung gehört ein ordentliches Software-Update, meist mit dem neuesten „Kryptoalgorithmus“ und den neuesten Abrechnungsregeln. Auch ein Heidenspaß, denn ich bin bei uns der Software-Beauftragte. Merke: Abrechnung ohne Update won't work.
Keine Sorge, ich bin keiner dieser Chefs, die ihre fMFA nicht in Ruhe lassen können im Urlaub. Ganz im Gegenteil: WhatsApp-Gruppen bleiben geschlossen und SMS gibt es eigentlich nie, das muss einfach nicht sein. Aber es gibt immer etwas zu planen, zu besprechen, zu hirnen: Haben wir eine neue Azubi ab Herbst? Wie verfahren wir weiter mit der Kurzarbeitsregelung? Kann Julia weiter auf dreiviertel arbeiten, oder muss dann Moni mehr Tage abdecken? Alles eher virtuelle Dinge, aber auch die fressen Zeit.
Es gibt so viel Zeugs, zu dem ich unter der Woche keine Lust habe, ich verlasse gerne pünktlich die Praxis mit dem letzten Patienten oder dem letzten Telefonat, nur der Schreibtisch sollte halbwegs abgearbeitet sein. Halbwegs bedeutet: Die Hälfte. Aber dann muss dieser PC ausgetauscht werden, die letzte Glühbirne in Untersuchungszimmer 4 braucht mal wieder funktionierende Gesellschaft, das Aquarium will geputzt sein, die Eisenbahn geölt. Und dann auch die großen Sachen: Mal wieder Fenster putzen, die Telefonanlage einrichten und programmieren, die alten Akten sortieren und entsorgen (aber erst nach zehn Jahren!). Ungeliebte Aufgaben von unter der Woche = ab in den Urlaub damit.
Ich bin nicht so der Abend-Qualitätszirkel-Performer. Am Ende eines Zehn-Stunden-Tages noch irgendwo im Hörsaal der Kinderklinik abhängen oder einer Zoom-Konferenz lauschen. Aber wir müssen das ja machen, denn wir haben Fortbildungsverpflichtung. Also planen wir einen Kongress ein- oder zweimal im Jahr, unter Pandemiebedingungen nicht so einfach bis unmöglich, aber das lange Wochenende im Oktober ist ja noch frei – Brückentage sind was Tolles. Oder in den nächsten Osterferien auf nach Brixen, die Insider wissen.
Und natürlich lesen, lesen, lesen, die Monatsschrift Kinderheilkunde kommt monatlich (nomen est) und stapelt sich geduldig auf dem Tischlein unterm Dach daheim. Achja: Ich habe mir vorgenommen, dass pro fünf angefangene Bücher ein Sachbuch dabei ist, da warten gerade noch drei Stück auf mich.
Wir wären nicht in diesem Job, wenn wir ihn wie den Kittel abends an die Garderobe hängen, damit wir die Dinge, die uns beschäftigen, nicht mit nach Hause nehmen müssen.
Waren die Laborwerte in Ordnung, die wir am Freitagmorgen noch abgenommen haben? Kurz noch einen Blick per VPN in die Praxissoftware. Wird der Kurantrag für Familie Manzing durchgehen, die nun seit drei Jahren ihre Tochter mit Cerebralparese pflegen? Wie gehts wohl dem Dreijährigen mit Facialisparese aus heiterem Himmel, der doch irgendwie meningeal wirkte? Einweisung am Donnerstag. Warum habe ich die Familie mit den drei Söhnen (vier, sieben und neun) seit dem letzten Lockdown nicht mehr gesehen, obwohl sie früher beinahe jeden Montag oder Dienstag da waren, weil immer ein Kind krank war und „auf keinen Fall“ in den Kindergarten oder in die Schule konnte. Was, wenn Familie Soytun zur Vertretung muss, der Kollege weiß doch gar nicht, dass … .
Und dann das Gefühl, nicht alles getan zu haben, noch irgendetwas liegen gelassen, vergessen zu haben, und hätte ich nicht noch, oder sollte ich daran denken, dass … . Damals in der Klinik hat die nächste Schicht übernommen, da hat sich manchmal etwas über Nacht getan oder jenseits des Wochenendes, aber hier bin ich alleine in charge. Alles muss getan, bedacht, überlegt sein.
Ok, und manchmal gibt es dann die Momente, in denen du realisierst, dass du tatsächlich minutenlang, stundenlang, ganz plötzlich tagelang, nicht an die Praxis gedacht hast, nicht an das liebe Geld, nicht ans Personal, nicht an Glühbirnen, an Kongresse oder an Patienten. Das muss wohl dieses Abschalten sein, von dem alle reden.
Unvergessen der Moment vor zehn Jahren, als das Handy in der Hosentasche vibrierte, wir mit der Familie auf dem Elbe-Radweg, dabei die Kids zu motivieren, noch die letzten fünf Kilometer bis zur Unterkunft durchzuhalten, die schöne Landschaft genießend, die Marschen, die Felder, die Sonne, die schweren Beine. Ich gehe nicht ans Telefon, bin ich verrückt, es ist gerade so schön.
Aber später, auf der Mailbox, der vertretende Kollege aus dem Nachbarort: „Servus Kollege, keine Ahnung, wo du gerade bist im Urlaub, aber … der Anrufbeantworter deiner Praxis geht nicht. Vielleicht kannst du das mal richten.“ Joah.
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