Während der Corona-Pandemie eskaliert die Studien-Situation. Denn: Alle wollen mitmachen. Gefühlt jede Sekunde erscheint ein neues Paper – mal wichtig, mal so nützlich wie ein Kropf.
Bei Fragen zu COVID-19-Risikofaktoren, zur Diagnostik, Therapie oder zur Prävention dieser Krankheit gibt es nur einen Goldstandard: Randomisierte, placebokontrollierte Studien (RCZs). Ärzte in Forschung und Praxis wissen das, Laien aber nicht. Und so sorgen Assoziationsstudien oder präklinische Studien für reichlich Verwirrung. Aber auch RCTs können Schwächen haben. Einige der seltsamsten Studien.
Forscher der Technischen Universität München fanden Assoziationen zwischen Pollenflug und COVID-19-Risiko. Bis zu 44 % der Variabilität der Infektionsrate wollen sie damit erklären. Das bedeutet aber: Zu 56 % oder mehr liegen andere, nicht genannte Gründe vor. Und seit Monaten tragen wir FFP2-Masken. Sie schützen vor SARS-CoV-2 – und vor den wesentlich größeren Pollen. Bei der Studie haben sich Mathematiker und Statistiker mal so richtig ausgetobt.
Ähnlich realitätsfern waren Untersuchungen zum Risiko von Sport im Freien. Niederländische Forscher hatten schon früher mit Messungen im Windkanal und Berechnungen die Aerodynamik bei Radrennen untersucht, um Strategien von Profisportlern zu verbessern. Probanden bewegten sich bei Windkanal-Messungen hintereinander, nebeneinander oder seitlich versetzt. Daraus haben Forscher folgende Abstände berechnet: Fußgänger mindestens vier bis fünf Meter, Jogger und langsam fahrende Radler mindestens zehn Meter, ambitionierte Amateur- und Profi-Radler mindestens 20 Meter.
Keine der Untersuchungen wurde im Freien durchgeführt, vielmehr handelt es sich um reine Windkanal- und Computerdaten. Was gilt unter realen Bedingungen? Aerosole werden rasch verweht; sie spielen draußen keine nennenswerte Rolle, wenn Sportler in Bewegung sind. Die Gesellschaft für Aerosolforschung sieht in einer Maskenpflicht beim Sport, viele Städte hatten sich dafür entschieden, „eher symbolische Maßnahmen“. Sprich: Politiker entwickeln Aktionismus, damit ihnen nachher niemand vorwerfen kann, untätig gewesen zu sein. Immer gut, sich dabei auf die Wissenschaft zu berufen.
Und auch sonst stößt man auf so einige Publikationen, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, ob es die gebraucht, bzw. ob da nicht auch der gesunde Menschenverstand ausgereicht hätte. „Studie bestätigt massive familiäre Belastung durch Homeschooling“, „Hygieneregeln wirken auch gegen britische und südafrikanische Mutante“, „Weniger freiberufliche und gewerbliche Existenzgründungen im Corona-Pandemiejahr“.
„Wie Corona die Chormusik aus dem Takt bringt“, „Der Einfluss der Corona-Pandemie auf die Digitalisierung im Tourismus“, „Folgestudie zu den Auswirkungen von Corona auf das Online-Dating“ – bei all diesen Publikationstiteln wird vor allem eines deutlich: Alle wollen mitmachen bei den Corona-Studien.
Doch was bringt der ganze Aktionismus? Dazu habe ich einen älteren, längst emeritierten Virologen aus München per E-Mail befragt. Er kennt das Phänomen nur allzu gut, wenn auch in einem anderen Kontext. Ab 1983 sorgte das HI-Virus weltweit für ähnliche Schlagzeilen wie SARS-CoV-2 heute.
„Fast jedes Drittmittel-Forschungsprojekt mit HIV wurde damals ohne große Schwierigkeiten bewilligt“, so der Emeritus. „Und Journale haben Papers mit dem Thema deutlich seltener abgelehnt.“ Das Spiel scheint sich zu wiederholen. Was kommt als Nächstes? Finden wir Assoziationen zwischen COVID-19 und dem Verzehr von Burgern? Oder erhöhen Hausstaub-Milben das Risiko? Warten wir, was in der Zukunft noch so auf den Preprint-Servern landet.
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