Untersuchungen zur Brachy-, Poly- und Syndaktylie zeigen, dass Veränderungen der äußeren Grenzen der TADs (topologically associated domains) zu erheblichen Störungen bei der Regulation zugehöriger Gene führen können.
Eine wesentliche Rolle bei der Genregulation spielen sogenannte TADs (topologically associated domains): Bereiche, in denen das Genom große dreidimensionale Strukturen aus Histonen, regulatorischen Proteinen und Transkriptionsfaktoren bildet. Eine TAD umfasst jeweils ein oder mehrere Gene, sowie alle regulatorischen Elemente, von denen diese beeinflußt werden. Ihre Struktur ist sowohl in unterschiedlichen Zelltypen als auch in verschiedenen Tierarten nachweisbar, sie gelten daher als hoch konserviert. Regulatorische Elemente innerhalb einer TAD beschränken ihre Aktivität auf „ihre“ TAD, umgekehrt werden Gene in benachbarten TADs von dieser Aktivität abgeschirmt.
Die Bedeutung der TADs im Zusammenhang mit der Entstehung von Krankheiten haben jetzt Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik und der Charité – Universitätsmedizin Berlin an drei unterschiedlichen, angeborenen menschlichen Erkrankungen untersucht. Sie haben herausgefunden, dass Veränderungen insbesondere der äußeren Grenzen der TADs zu erheblichen Störungen bei der Regulation der Gene und damit zu Krankheiten führen können. Die Ergebnisse zeigen, dass für die Entstehung einer Erkrankung nicht nur Veränderungen an kodierenden Genen selbst, sondern aufgrund dieser übergeordneten Struktur des Genoms auch Veränderungen in weit von den jeweiligen Genen entfernt liegenden nicht-kodierenden Regionen verantwortlich sein können. Die Berliner Forscher konzentrierten sich bei ihren Untersuchungen auf drei unterschiedliche seltene menschliche Erkrankungen der Knochen in Händen und Füßen. Die Brachydaktylie ist eine erblich bedingte Verkürzung der Finger und Zehen. Bei der Polydaktylie kommt es zur Bildung zusätzlicher Finger und bei der Syndaktylie zum Zusammenwachsen mehrerer Finger oder Zehen. Alle drei Erkrankungen haben genetische Ursachen und entstehen bereits im Laufe der Embryonalentwicklung. Die Forscher konnten zeigen, dass die drei Erkrankungen durch jeweils unterschiedliche, sogenannte strukturelle Veränderungen des Genoms (Deletion, Duplikation, Inversion) entstehen. Bei einer Deletion fehlt ein größerer Abschnitt des Genoms, bei einer Duplikation kommt es zu einer Verdopplung und bei der Inversion ist ein größerer Genomabschnitt innerhalb der DNA-Sequenz umgedreht. Die gefundenen Veränderungen zerstören die Struktur der TADs in dieser Region, indem sie deren Grenzen verschieben bzw. entfernen.
„Strukturveränderungen des Genoms sind eine häufige Ursache für genetische Erkrankungen. Die Suche nach diesen Veränderungen gehört daher zum diagnostischen Standard bei ihrer Abklärung. Oft sind die gefundenen Veränderungen aber schwierig zu interpretieren und es bleibt dann unklar, ob sie tatsächlich die Ursache der Erkrankung sind“, erklärt Prof. Dr. Stefan Mundlos. Deshalb haben die Forscher die genetischen Veränderungen, die bei den menschlichen Erkrankungen gefunden wurden, in das Erbgut von Mäusen übertragen. Sie verwendeten dafür eine von ihnen selbst entwickelte Variante des sogenannten CRISPR/Cas-Verfahrens, welches es erlaubt, in kurzer Zeit gezielt große strukturelle Umbauten im Genom von Mäusen vorzunehmen. „Unsere Ergebnisse belegen, dass die Veränderungen im Erbgut der Grund für die Erkrankungen beim Menschen sind: Die Mäuse mit dem veränderten Genom weisen die gleichen Krankheitssymptome auf wie die betroffenen Menschen.“ Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass Fehlfunktionen eines Gens entweder in Veränderungen des Gens selbst oder in den Steuerungsfaktoren begründet sein müssen, die die Aktivität des Gens regulieren. Die Ergebnisse der Berliner Forscher zeigen jedoch, dass darüber hinaus auch die Umgebung eines Gen – und zwar über eine Entfernung von bis zu mehreren Millionen Basen hinweg –einen starken Einfluss auf die ordnungsgemäße Funktion des Gens besitzt. Schematische Darstellung zweier TADs in gesunden Genom. Oben: Die „Mauer“ zwischen den beiden Bereichen bewirkt, dass der Regulator (=enhancer) in TADa nur das Gen in TADa beeinflussen kann, nicht aber das Gen in TADb. Unten: Wenn die Grenze zwischen zwei TADs aufgrund einer Mutation verändert oder verschoben wird, kann der Regulator/enhancer auch diejenigen Gene beeinflussen, die zuvor vor ihm abgeschirmt waren. © MPI f. molekulare Genetik/ Thomas Splettstoesser, www.scistyle.com
„Man kann sich die DNA als langen Faden vorstellen, der durch Mauern in unterschiedliche Abschnitte bzw. TADs unterteilt ist“, erläutert Mundlos. „Innerhalb eines Abschnittes können alle Elemente – Gen, Regulator, Transkriptionsfaktoren, Polymerasen und viele andere – frei miteinander interagieren. Die Mauern begrenzen diese Bereiche und schirmen sie von benachbarten Aktivitäten ab. Durch strukturelle Veränderungen können einzelne Mauern jedoch entfallen oder an eine andere Stelle versetzt werden. Dadurch verändert sich die Zusammensetzung der TAD und auf einmal können Elemente miteinander agieren, die zuvor streng voneinander getrennt waren. Als Folge können Gene falsch reguliert werden und zum Beispiel die von uns untersuchten Fehlbildungen verursachen.“ Aus den Ergebnissen der Berliner Forscher lässt sich daher ein grundsätzlich neues Verständnis dafür ableiten, über welche Mechanismen Veränderungen im Genom Krankheiten verursachen können. Originalpublikation: Disruptions of Topological Chromatin Domains Cause Pathogenic Rewiring of Gene-Enhancer Interactions Stefan Mundlos et al.; Cell, doi: 10.1016/j.cell.2015.04.004; 2015