In den letzten Jahren ist viel vor Paracetamol gewarnt worden: Das Schmerzmittel könne alle möglichen Erkrankungen verursachen. Aktuelle Studien sprechen dem Oldie die Wirkung bei Gelenk- und Kreuzschmerzen ab – und stellen neue Anwendungsgebiete in Aussicht.
Das Schmerzmittel Paracetamol steht seit 1977 auf der WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneistoffe. Bedenkt man, dass die Gruppe der nicht-opioiden Analgetika nur eine Handvoll Substanzen enthält, nicht unverständlich. Seit einigen Jahren häufen sich aber die Hinweise, dass Paracetamol nicht so harmlos ist, wie es lange angenommen wurde. Zunehmend erscheinen auch Studien, die dem Schmerzmittel sogar die Wirksamkeit bei bestimmten Erkrankungen absprechen. So hatte im Juli 2014 die PACE-Studie [Paywall] (Paracetamol for Low-Back Pain Study) dem beliebten Analgetikum attestiert, bei Kreuzschmerzen zu versagen. In einer Anfang dieses Jahres veröffentlichten Metaanalyse untersuchte die Arbeitsgruppe um Christopher Maher vom George Institute for Global Health in Sydney die Wirksamkeit von Paracetamol bei akuter Lumbalgie. Das Ergebnis: Paracetamol (PCM) reduzierte weder die Schmerzintensität (mittlere Differenz -0,5, 95-Prozent-Konfidenzintervall -2,9 bis 1,9) noch verminderte es die schmerzbedingten Behinderungen (0,4; -1,7 bis 2,5); auch zu einer Verbesserung der Lebensqualität (0,4, -0,9 bis 1,7) kam es nicht. Die Arbeitsgruppe um Maher wertete zehn randomisierte hochwertige und placebokontrollierte Studien mit 3.541 Patienten aus und untersuchte die Wirksamkeit von Paracetamol bei Rückenschmerzen. Die Schmerzintensität besserte sich unter PCM um 3,7 Punkte (5,5-1,9) und die Behinderung nahm um 2,9 Punkte ab (4,9-0,9). Hätten die Forscher die in Deutschland gebräuchliche Numerische Analogskala von 1 bis 10 verwendet, wäre dies ein respektabler Erfolg. Zum Einsatz kam jedoch eine Skala von 1 bis 100. Der Unterschied zu Placebo ist somit nicht signifikant. In den Studien kam es fast viermal so häufig zu einer Erhöhung von Leberenzymen (Risk Ratio 3,8; 1,9-7,4), weshalb Paracetamol keineswegs bedenkenlos eingesetzt werden dürfe.
Christopher Williams [Paywall] vom George Institute untersuchte die Genesungszeit bei Rückenschmerzen unter Paracetamol. Die 1.652 Patienten wurden in drei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe erhielt dreimal täglich das Analgetikum, die zweite nur im Akutfall und die dritte Gruppe erhielt Placebo. In der Verumgruppe waren die Patienten nach 17 Tagen beschwerdefrei, in der Placebogruppe bereits nach 16 Tagen. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die regelmäßige oder nach Bedarf stattfindende Dosierung von Paracetamol im Vergleich zu Placebo keinen Einfluss auf die Genesungszeit bei Schmerzen im unteren Rücken hat“, so die Autoren.
In der bis November 2015 gültigen Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz wird Paracetamol nur mit großer Zurückhaltung empfohlen. „Bei leichtem bis moderatem akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz kann ein Behandlungsversuch mit Paracetamol bis zu einer maximalen Tagesdosis von 3 Gramm unternommen werden. Der Behandlungserfolg ist kurzfristig zu überprüfen.“ Im Kommentar wird noch deutlicher zur Zurückhaltung gemahnt: „Der Einsatz von Paracetamol kann bei subakutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nur nach einer ausführlichen Medikamentenanamnese und nur zur Behandlung kurzer Exazerbationen des chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzes eingesetzt werden. Die Einnahme sollte dann nur für kurze Zeit und in möglichst niedriger Dosis erfolgen.“ Außerdem warnen die Leitlinienautoren vor PCM-Nebenwirkungen: „Es gibt Hinweise, dass die häufigere Einnahme von Paracetamol (an mehr als 21 Tagen pro Monat) das Risiko für Blutdruckerhöhungen und Herzinfarkte erhöht. Bei Komedikation von NSAR und Paracetamol wird das Risiko gastrointestinaler Ulzerationen und Blutungen erhöht. Bei akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz sollten NSAR zur Schmerzlinderung in limitierter Dosierung eingesetzt werden. Evidenz liegt vor für bis zu 1,2 g Ibuprofen, 100 mg Diclofenac oder 750 mg Naproxen täglich.“
Ergebnisse einer Studie von Dougados et al. belegten, dass keine Wirkung von Paracetamol bei Patienten mit Osteoarthritis (OA) des Knies besteht. Insgesamt wurden 779 Patienten für eine sechswöchige Behandlung mit täglich 4 Gramm Paracetamol oder Placebo randomisiert. Primärer Endpunkt war eine 30-prozentige Abnahme der allgemeinen Schmerzintensität des Knies. Nach sechs Wochen unterschied sich der analgetische Effekt von Paracetamol nicht signifikant von der des Placebos. Zwar war die Studie mit fast 800 Patienten ausreichend groß angelegt, doch daraus die Aussage abzuleiten, Paracetamol sei bei Gelenkschmerzen gänzlich unwirksam, geht selbst den Studienautoren zu weit.
Mehrfach wurde darüber diskutiert, ob Paracetamol ein Risiko für männliche Feten darstellt und in der Lage ist, einen Kryptorchismus zu begünstigen. Eine aktuelle Studie von van den Driesche sieht ebenfalls die Zeugungsfähigkeit männlicher Ungeborener in Gefahr. Das Analgetikum soll fetale Testosteronspiegel beeinflussen. Die Informationsseite des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie sieht weiterhin keine erhöhte Gefährdung für Embryonen: „Nach heutigem Wissen erhöht Paracetamol das Fehlbildungsrisiko nicht. (...) Dies gilt auch für den kürzlich behaupteten Zusammenhang zwischen einer Paracetamoleinnahme am Ende des ersten Trimenons oder zu Beginn des zweiten und dem Auftreten eines Hodenhochstands. Die betreffenden Ergebnisse sind widersprüchlich, beruhen auf kleinen Fallzahlen in Studien mit problematischer Methodik und können nicht plausibel erklärt werden“.
Unabhängig von möglichen Schwangerschaftsrisiken macht Paracetamol auf einem ganz anderen Gebiet von sich reden: „Die Einnahme von Paracetamol scheint weitreichendere Konsequenzen zu haben, als zuvor gedacht. Denn das Mittel ist offenbar nicht nur ein Schmerzdämpfer, sondern auch ein Gefühlsdämpfer“, fasst Geoffrey Durso das Ergebnis seiner Untersuchung [Paywall] zusammen. Darin wurden 82 Probanden emotional aufwühlende, neutrale und angenehme Fotos gezeigt. Niedliche Katzenbabys, grasende Kühe oder Kriegsszenarien sollten beurteilt werden. Ein Teil der Probanden erhielt eine Stunde vor dem Versuch 1000 mg Paracetamol, der andere ein Placebo. Die Verumgruppe bewertete die erschütternden oder erfreulichen Fotos in einer emotionalen Ranking-Skala deutlich weniger positiv oder negativ. Eine Studien von Eisenberger et al. hat die Wirkung von Paracetamol auf „soziale Schmerzen“ untersucht, konkret auf Liebeskummer. Dieser wird durch die Einnahme von Paracetamol ebenso gebessert wie emotionaler Schmerz auf Grund von Abweisung. Paracetamol greift auch in das serotonerge Nervensystem ein und agiert mit Cannabis-Rezeptoren. Ob dies Gründe für die psychotropen Wirkungen sind, kann nur spekuliert werden. Die neuen Erkenntnisse stellen nicht die zuverlässige Wirkung von Paracetamol bei anderen Schmerzzuständen oder Fieber infrage. Dennoch können sie dazu anregen, das Analgetikum zielorientierter und somit restriktiver einzusetzen.