Pflegepersonal kündigt in Scharen, der Kollaps des Systems steht bevor, warnen Experten. Das ist nicht neu – aber jetzt verschärft sich die Situation durch ein weiteres Problem.
Die aktuellen Zahlen haben mich überrascht: Bei Jugendlichen ist das Interesse an Pflegeberufen deutlich gestiegen. Laut Statistischem Bundesamt haben im Jahr 2019 rund 71.300 Menschen mit der Ausbildung angefangen – das sind 8,2 Prozent mehr als im Vorjahr. Klingt doch gut, nicht wahr?
Allerdings weiß man schon heute: Durch die außergewöhnliche Belastung in Pandemie-Zeiten haben sich viele Fachkräfte entschlossen, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 sollen mehr als 9.000 Personen den Job gewechselt haben. Hinzu kommt, dass Deutschland aufgrund demographischer Trends perspektivisch mehr Pflegekräfte benötigt. Für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen bleibt oft nur, auf Zeitarbeit zu setzen: ein zweischneidiges Schwert. Einst als Wundermittel gegen den Fachkräftemangel gepriesen, wird Zeitarbeit in der Pflege zum Problemfall. Aber ich denke: Krankenhäuser sollten dringend an sich selbst arbeiten, anstatt Zeitarbeit zu verteufeln.
Aus der Sicht von Pflegerinnen und Pflegern ist Zeitarbeit attraktiv, keine Frage. Sie haben feste Dienstpläne ohne Berge an Überstunden; Beruf und Familie lassen sich eher vereinbaren. „Ich kann endlich wieder meinen Feierabend genießen“ – so zitiert ein Anbieter von Zeitarbeit recht plakativ einen Mitarbeiter.
Und in vielen Fällen ist das Gehalt höher als bei einer Festanstellung im Krankenhaus. Kein Wunder, dass etliche Pflegekräfte eigentlich keine Festanstellung in Klinken oder Altenheimen wollen. Diese Arbeitgeber haben mehr und mehr Probleme, obwohl sie ursprünglich Zeitarbeit als flexible Maßnahme geschätzt haben.
Mittlerweile sind Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen auf die Zeitarbeit angewiesen und die Situation spitzt sich weiter zu. Einzelne Arbeitgeber decken den Bedarf an Fachkräften schon zu 50 Prozent über die Zeitarbeit. Bundesweit hat sich der Einsatz externer Mitarbeiter in den letzten Jahren fast verdoppelt. Waren es 2014 noch 12.000 Leiharbeiter, so stieg deren Zahl in 2018 auf 22.000 Personen.
Zeitarbeitskräfte müssen auf der Station eingearbeitet werden, bleiben dann aber nur wenige Wochen bis Monate vor Ort. Dem Arbeitsklima tut die hohe Fluktuation nicht gut. Fest angestellte Kolleginnen oder Kollegen sehen weniger Gehalt auf ihrem Konto, leisten aber Überstunden und arbeiten zu unbeliebten Zeiten. Früher oder später suchen auch sie ihr Glück bei der Zeitarbeit – ein Teufelskreis.
Personalvorstände und Verwaltungsdirektoren sind über die Entwicklung erbost, etwa in Berlin. Dort haben sie eine regionale Allianz gegründet, um gemeinsam mit Anbietern von Zeitarbeit einheitliche Verträge auszuhandeln. Worum geht es wirklich? Leiharbeit in der Pflege hat einen kritischen Punkt erreicht. „Sie verschlingt Millionenbeträge und belastet alle Häuser, vor allem in den Ballungsräumen“, so wird Judith Heepe, Pflegedirektorin der Charité, zitiert. Wieder einmal geht es ums Geld.
Doch etliche Kliniken oder Pflegeeinrichtungen haben den Schuss nicht gehört. Wichtiger wäre, dass sie alles daransetzen, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden. Ansonsten bleibt alles beim Alten. Wir brauchen flexiblere Arbeitszeiten, andere Schichtsysteme und höhere Löhne. Wie so oft ertönt reflexartig ein Hilferuf in Richtung Politik. Doch das allein wird kaum ausreichen. Kurzfristige Maßnahmen müssen von Arbeitgebern selbst kommen.
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