Die indische Virusvariante B.1.617 hat Europa längst erreicht. Jetzt wurde sie von der WHO als besorgniserregend eingestuft. Wie gefährlich kann sie uns werden?
Noch vor wenigen Wochen breiteten sich in Indien viele unterschiedliche Varianten explosionsartig aus, darunter die britische B.1.1.7-Linie und B.1.351 aus Südafrika – doch inzwischen gewinnt B.1.617 zusehends die Oberhand. Sie wurde in Indien zum ersten Mal im Oktober entdeckt und war relativ unauffällig, bis sie ab Januar in immer mehr Proben auftauchte. Die WHO stuft sie inzwischen als Variant of Concern (VOC) ein, eine besorgniserregende Variante mit ersten Hinweisen auf erhöhte Infektiösität.
Bereits in über 40 Ländern konnte sie nachgewiesen werden. Im Vereinigten Königreich etwa breitet sich derzeit vor allem ein Subtyp der indischen Variante, B.1.617.2, aus. Sie wurde von der dortigen Gesundheitsbehörde bereits als VOC eingestuft, da die steigenden Fallzahlen stark an den Beginn der Ausbreitung von B.1.1.7 erinnern. Ihr Vorkommen hat sich dort in den vergangenen Wochen bei sinkender Gesamtinzidenz wöchentlich grob verdoppelt. Die Epidemiologin Deepti Gurdasani von der Queen Mary University of London erklärte gegenüber The Guardian, dass die Variante bereits Ende Mai oder Anfang Juni die dominante Variante in London werden könne.
Auch hierzulande konnte die Variante B.1.617.2 schon nachgewiesen werden. Laut aktuellem RKI-Bericht findet sie sich in Deutschland zwar erst in knapp einem Prozent der Proben. Allerdings nahm ihr Anteil in den vergangenen drei Wochen mit einem ähnlichen Tempo wie im Vereinigten Königreich zu. „Dies lässt darauf schließen, dass diese Variante gegenüber anderen einen Vorteil bei der Ausbreitung hat und deshalb muss angenommen werden, dass sie, ähnlich wie in Indien, andere Varianten verdrängen wird“, kommentiert Prof. Joachim L. Schultze die Situation. Er ist Direktor des Forschungsbereichs Systemmedizin am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
Einige Experten sind sich da noch nicht so sicher. „Es ist nach wie vor schwierig einzuschätzen, ob B.1.617.2 sich wirklich schneller verbreitet als B.1.1.7 oder nicht“, erklärt Prof. Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel. „Die meisten Daten, die wir haben, sind aus Großbritannien und da gab es in der ersten Aprilhälfte, als die Inzidenz in Indien extrem hoch war, viele Reiserückkehrer aus Indien. Und obwohl die Reiserückkehrer aus den Statistiken herausgerechnet sind, weiß ich nicht genau, wie mit Folgeinfektionen umgegangen wird.“ Dieser hohe Import-Druck erschwere die Interpretation dieser Zahlen, meint Neher.
B.1.617 zeichnet sich durch die Mutationen E484Q und L452R im Spike-Protein aus. Beide stehen im Verdacht, dem Virus das Andocken und Eindringen in menschliche Zellen zu erleichtern. Eine vorläufige Publikation deutet zudem darauf hin, dass die Variante durch die sogenannte P681R-Mutation womöglich auch pathogener sein könnte. Gesichert ist das nicht.
Erste Untersuchungen zum Impfschutz sehen allerdings vielversprechend aus. Sie lassen vermuten, dass sich die neue Variante dem Immunsystem von Geimpften nicht so leicht entziehen kann. So zeigen die vorläufigen Ergebnisse von In-vitro-Neutralisationstests, dass sowohl Rekonvaleszentenseren als auch Blutseren von Menschen, die mit dem Vakzin Covishield geimpft wurden, Schutz gegen die B.1.617-Variante bieten. Bei Covishield handelt es sich um den Impstoff von AstraZeneca, der in Indien für den dortigen Markt produziert wird.
Berichte aus indischen Krankenhäusern scheinen die Beobachtungen aus dem Labor zu bestätigen: Unter Mitarbeitern zweier großer Kliniken, die mit Covishield geimpft wurden, gab es keine schweren COVID-19-Verläufe. In Großbritannien zeigt sich derweil, dass sich die Variante eher unter jungen Ungeimpften ausbreitet – Impfungen scheinen also auch vor B.1.617 zu schützen.
Untersuchungen mit Covaxin, dem in Indien selbst entwickelten Impfstoff, kommen zu ähnlich guten Ergebnissen: Die Neutralisation von B.1.617 war zwar geringer verglichen mit Ursprungsvariante, sie war aber nur um das 2-Fache niedriger. Bei der Südafrika-Variante hingegen gab es eine fast 6-fache Reduktion der Neutralisation durch gebildete Antikörper. Und laut einer noch unveröffentlichten Studie der Oxford-Universität wirkt sowohl der Impfstoff von AstraZeneca als auch der von Biontech in etwa so gut gegen die Variante B.1.617.2 wie gegen B.1.1.7. oder P.1.
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