Weltweit stehen zu wenige COVID-19-Vakzine zur Verfügung. Die Forderung, Patente auf Eis zu legen, wird immer lauter. Meine Pro-und-Contra-Liste.
Obwohl es mittlerweile Zulassungen für einige COVID-19-Vakzine gibt, stagniert die Zahl an Impfungen. Industrienationen klagen darüber, aber ärmere Länder trifft es deutlich härter. Betroffene Regierungen fordern zusammen mit Hilfsorganisationen deshalb, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Vakzine aussetzen. Ein komplexes Thema: Die EU ist dagegen; die USA und Russland wären zumindest offen für Diskussionen. Das Vorgehen hätte sowohl Vor- als auch Nachteile.
Alles begann wie so oft mit der öffentlich finanzierten Grundlagenforschung. AZD1222 (ChAdOx1) wurde an der Universität Oxford entwickelt. Forscher bekamen dafür staatliche Mittel. Später gab es für Firmen steuerfinanzierte Geldspritzen, um ihr Studienprogramm rasch umzusetzen und um ihre Produktion hochzuskalieren. Und jetzt profitieren Hersteller wirtschaftlich von der Pandemie – der Umsatz mit COVID-19-Vakzinen soll 2021 im Milliardenbereich liegen; Details zu Gewinnen sind nicht bekannt.
Angesichts solcher Zahlen wäre es nur gut und billig, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, indem Patente befristet ausgesetzt werden. Am Hungertuch wird kein Konzern deshalb nagen. SARS-CoV-2 wird uns nach jetzigem Kenntnisstand erhalten bleiben. Manche Virologen rechnen wie bei Influenza mit regelmäßigen Impfungen – und damit für Konzerne mit Einnahmen auch nach der Pandemie.
Und nicht zu vergessen: Ohne Patentschutz könnten alle Firmen mit entsprechender Ausstattung Vakzine herstellen – auch zu deutlich günstigeren Preisen. Entwicklungsländer hätten die Möglichkeit, Technik vor Ort vorausgesetzt, ihren Eigenbedarf selbst herzustellen. Das betonen jedenfalls Befürworter der Patent-Aussetzung. Doch stimmt das wirklich?
Wir sprechen hier nicht von Generika mit ein paar gut charakterisierten organisch-chemischen Synthesestufen. Vektorvirus- oder mRNA-Technologien wurden über mehr als ein Jahrzehnt hinweg entwickelt, kaum beachtet von der Öffentlichkeit. Es handelt sich um komplexe Herstellungsprozesse, die sich nicht von heute auf morgen ohne Unterstützung der Patentinhaber aufbauen lassen. Man braucht Chemikalien, Produktionsstätten, Fachkräfte, Protokolle zur Herstellung und zur Qualitätssicherung. Derzeit fehlen Rohstoffe, Zwischenprodukte und sogar Glas-Vials zur Abfüllung. Die Freigabe von Patenten wird solche Probleme kurzfristig nicht lösen.
Hinzu kommt: Um im Rahmen zwischenstaatlicher Regelungen zu bleiben, müssten alle 164 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation (WTO) zustimmen, dass Patente auf Eis gelegt werden. Allein das gilt als recht unwahrscheinlich. Es gibt zwar eine Mehrheit. Aber jede Nation kann ihr Veto einlegen. Und Piraterie ohne Protokolle der Hersteller führt kaum zu sicheren, wirksamen Impfstoffen.
Kritiker sehen auch nicht nur in zu geringen Produktionsmengen ein Problem. Derzeit bestehen Handelsbeschränkungen. So hat die USA ein Exportverbot verhängt. Europa wiederum führt die Hälfte aller produzierten Vakzine aus.
Nicht zuletzt wäre es für forschende Hersteller genau das falsche Signal, ihnen jetzt Patente befristet zu entziehen. Sie haben mit ihrer Arbeit dazu beigetragen, die Welt aus der Krise zu führen. Ihnen jetzt die Früchte ihrer Arbeit zu nehmen, würde sich kaum förderlich auf ihre Motivation auswirken. Wir dürfen nicht vergessen: Es wird auch nach Corona weitere medizinische Herausforderungen geben. Amortisieren sich ihre Investitionen nicht, sinkt auch die Bereitschaft, bei künftigen Herausforderungen mit Hochdruck zu forschen.
Alles in allem sind wir nicht in der Position, Patente auf Eis zu legen. Das mag bei kleinen Molekülen zum Erfolg führen, aber nicht bei komplexen Impfstoffen. Dennoch sollten Regierungen aus dem Debakel Lehren ziehen. Weltweit finanzieren sie die Grundlagenforschung, siehe Oxford-Impfstoff. Aber selbst schon für Phase-1-Studien braucht man industrielle Partner. Hochschulen oder deren Ausgründungen sind dazu nicht in der Lage. Dieses System muss dringend überdacht werden!
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