Wenn das PJ beginnt, strömen tausende deutsche Medizinstudenten zu unseren Nachbarn in die Schweiz. Wir stellen uns diesem „Abwanderungswahn“ mit einem höchst satirischen Rundumschlag.
PJ-Beginn: Autotüren werden zugeschlagen, weiße Taschentücher aus dem Abteilfenster entfaltet, Eltern umarmt, Tränen verdrückt. Und los: in das kleine bergige Stück Alpenland im Süden. Dieses Paradies für Wanderer, Kletterer, Naturburschen. Hier gibt es sie noch, die heile Welt, hier fließen noch Milch und Honig, hier beugt man sich im tradierten Wilhelm-Tell-Stolz nicht der Knute der EU. Und deshalb strömen die angehenden deutschen Unterassistenten über die Grenze, durchqueren Ortschaften wie Stühlingen, Schwörstadt, Hilzingen oder Grenzach-Wyhlen, um im heiligen Land, in Hallau, Rheinfelden, Bibern oder Pratteln anzukommen. Die 500 - 1.000 Franken, die der Unterassistent am Ende des Monats in der Hand hält, sind seit der Abkoppelung des Franken vom Euro – Hurra - ja noch viel mehr wert. Davon kann man in der Schweiz in Saus und Braus leben. Das wissen wir alle. Und wenn es weniger ist? Dann tauscht man halt Euros von Mama und Papa, von der Studienstiftung oder sogar Erspartes gegen Franken. Nichts leichter als das, die Eltern werden sich freuen, höchstens die Schweizer Banken sind vielleicht ein wenig ärgerlich ob des Mehraufwands. Und sollte es wider Erwarten mit dem Geld trotzdem nicht reichen? Dann werden halt Schichten gearbeitet, Nachtschichten, Wochenendschichten, lange Schichten. Sowieso. Man muss ja auf die läppischen 50 Stunden Wochenarbeitszeit kommen. 40 Stunden (gar noch mit Studientag, wie ihn sich manche deutschen Fakultäten erstaunlicherweise erlauben) sind was für Weicheier.
Und viel wichtiger: Wer will schon sein PJ vergammeln, auf Barbados, in Mexiko oder an anderen unterentwickelten, exotischen, gefährlichen Orten, anstatt hier die Möglichkeit zu haben, Verantwortung zu übernehmen, endlich einmal selbstständig sein, sich nicht immer alles aus der Hand nehmen lassen. Mit frohem Mute voran, denn man kann es kaum erwarten, als Assistenzarzt endlich in den Mühlen des deutschen Krankenhausbetriebes zu landen und dort – dank der praktischen Erfahrung in der Schweiz – zu bestehen! Die Chirurgie, die viele deutsche Unterassistenten ansteuern, ist das Paradebeispiel. Die Schweizer Patienten werden sich freuen, wenn in ihrem Spital auf dem Land der einzige „Arzt“ im Dienst mal wieder ein hochkompetenter deutscher Unterassistent ist. Nachdem die Sprachbarriere überwunden ist, muss nur noch die Kompetenzbarriere überwunden werden. Kurzer Anruf beim Oberarzt: Die Abszessspaltung oder Wundnaht werden erklärt, der Oberarzt geht wieder schlafen. Da die Güte chirurgischer Eingriffe bekanntlich keineswegs von der Erfahrung des Operateurs abhängt, ist eine persönliche Einarbeitung überflüssig. Und so konnte wenigstens Hand angelegt werden: Praxis, Praxis, Praxis in der Schweiz. Manchmal nur muss im Hurra der Abwanderung der Partner zu Hause bleiben. Vielleicht hat er ja keinen Platz bekommen, vielleicht studiert er nicht Medizin, vielleicht – unwahrscheinlich! – wollte er nicht. Dann kommt er halt am Wochenende gelegentlich vorbei. Der Weg von Berlin nach Zweisimmen (touristisch angepriesen als das „Sonnendorf am Rinderberg“) im Kanton Bern beispielsweise dauert mit der deutschen Bahn von Berlin schlappe elf Stunden. In der gleichen Zeit könnte man von Frankfurt nach Johannesburg fliegen. Die Wahl dürfte nicht schwer fallen, die Besuche des Partners werden zahlreich sein.
Und die Klinik auf dem Lande in Deutschland? Was ist eigentlich mit der? Will dort niemand hin? Schwarzwaldklinik, Spreewaldklinik, wie sie nicht alle heißen? Nein, ganz andere Klasse als die Schweiz, völlig anders! Der Klang allein. Schweiz. Schweeeiiiz. Diese zartschmelzende Melange aus schwach und Geiz. Nein, da kann keine deutsche Klinik mithalten, sei sie auch noch so sehr in den Alpen, seien auch noch so viele Klettergebiete und Wanderwege in der Nähe. Die wahre Entschädigung für den Weg in die Schweiz ist nämlich die folgende: Die Wanderschuhe sind geschnürt, das letzte Bergdorf vorm Aufstieg auf den Gipfel durchschritten. Die Kirchenglocken läuten, der Hahn kräht, die ersten Sonnenstrahlen blitzen über das Bergmassiv. Man fragt nach dem Weg und macht sich voller Elan, die Wegweisung höchstens halb verstehend, an den Aufstieg, unter den Wanderstiefeln knirschen die Kiesel des Weges. Vorbei geht es an klaren, eiskalten und stillen Bergseen, die die Sonne reflektieren wie ein riesiger Spiegel, an Almen mit glöckchenklingelnden Kühen, hinauf und immer hinauf, sich den Weg zum Gipfel mit dem eigenen Schweiße verdienen. Wenn die Gedanken versiegen, ja dann ist man eins geworden mit der Natur. Man munkelt, dass das Magazin ‚Landlust’ reagieren wird. Das dem schönen Landleben huldigende, abwanderungswillige Städter ködernde, Magazin, das mit einer Auflagenzahl gesegnet ist, die die Spiegel-Verantwortlichen sicherlich vor Neid erblassen lässt, könnte seine Strategie dem Abwanderungswahn anpassen: vermutlich wird es jeden PJ-Studenten, der mindestens ein Tertial in der Schweiz verbringt, mit einem einjährigen, kostenfreien „Landlust“-Probeabo ausstatten. Im Vertrieb rechnet man bestimmt schon heimlich damit, über die Hälfte der Abonnenten danach kostenpflichtig weiterbeliefern zu lassen. Wir werden sehen.