„18 freie Vollzeitstellen und keiner rückt nach.“ Intensivpersonal spricht Klartext: Über ungeschulte Neulinge und das verzweifelte Warten auf einen ärztlichen Kollegen, wenn man ihn braucht.
Wie ist der Status Quo auf Deutschlands Intensivstationen? Darüber haben sich unlängst viele medizinisch Tätige in einem Twitter-Thread ausgetauscht. Darin geht es vor allem um die Auslastung und die Personalsituation. Wie viele Mitarbeiter sind pro Schicht im Einsatz? Wie viele haben gekündigt, sind bereits gegangen? Wie viele Stellen werden gesucht und sind noch unbesetzt? Wie gut ist das bestehende Personal geschult? Viele Betroffene haben sich zu Wort gemeldet und ihre derzeitige Situation geschildert.
„Sind voll, 10/10 Plätze belegt, meist Schockraum auch. Personalmangel. Schichten ohne Personal mit Beatmungserfahrung oder du bist allein mit ITS-Erfahrung und musst 6–8 intubierte Patienten im Blick haben. PPUGS werden nicht eingehalten“, beschreibt eine Intensivpflegerin den Status Quo. „Neben Covid-Patienten wird im Haus immer noch elektiv operiert – ein erhöhter Aufwand für uns. Ärzt*innen sind genauso am Limit. […] Es ist keine adäquate Arbeit mehr, sondern eher mit Löffeln Wasser aus einem sinkenden Schiff schöpfen.“
Die ICU-Situation fasste ein Krankenpfleger kürzlich so zusammen: „Im Kernruhrgebiet, ausgehend 30 km rings um 44.652. Besonders fatal die Großkliniken wie UK Essen, Knappschaftskrankenhäuser, Lungenfachzentrum Essen gelb und rot markiert, Kapazität erschöpft, kaum bzw. keine ECMO verfügbar.“
Selbst wenn die Situation nach eigenen Angaben noch zu meistern ist, arbeitet man in unterbesetzter Zusammenstellung: „Aktuell sind zwei Betten gesperrt, somit fahren wir mit 24 Betten, davon 10 Covid. Eine Intensivkraft betreut 2–3 Patienten. Im Covidbereich zusätzlich eine Hilfskraft auf dem Gang, die alles in die Zimmer reicht. Läuft also noch, dank ständigem Einspringen. Trotzdem sind alle am Ende. ECMOs laufen viele, Bauchlagen machen wir mittlerweile im Schlaf, mit einem Arzt und zwei Pflegekräften. Nicht wie im Fernsehen zu fünft“, berichtet eine Userin.
Auch hier wird deutlich: Die Patienten werden jünger: „Bei uns auf COVID ITS 18 bei 5 ECMOS, auf weiteren ITS nochmal 8 Patienten. Ansonsten ca. 65 auf Normalstation (inkl. Airvo). Alter auf Intensiv U60, einige U40. Pflege zeitweise 8 zeitgleich krank, viele sind wirklich kaputt“, lautet ein weiterer Lagebericht. „Wir sehen im Durchschnitt definitiv jüngere Patienten. Altersmedian bei uns: 55 Jahre. Invasive Beatmung: 50 % ECMO-Therapie: 33 %“, twitterte auch ein Interventioneller Kardiologe & Intensivmediziner in dem Zusammenhang.
„Letztes Jahr 9 (!) frisch Examinierte eingestellt, direkt nach der Schule, gleichzeitig. Einarbeitung konnte nicht stattfinden. Die meisten von denen sind schon wieder weg. Erfahrenes Personal kündigt in Scharen“, meldet sich jemand in der Diskussion zu Wort. „Ich bin mir sicher, dass unser Team nicht unbeschadet (Kündigungen) davon kommen wird. Im nächsten Monat gehen bei uns bereits 3 erfahrene Intensivpflegekräfte. Ich hoffe, es werden nicht mehr“, schildert eine ICU-Krankenpflegerin der Charité Berlin die aktuelle Lage.
„Bis zum Ende des Jahres werden es 10 Vollzeit-Kräfte in der Pflege (Stand heute) weniger sein, [bei den] IntensivärztInnen ist es unklar“, beschreibt eine Anästhesistin die Situation an ihrem Arbeitsplatz. Ähnlich sieht es bei einer Intensivkrankenpflegerin aus, die ihre Situation so schildert: „Große Intensiv, 36 Betten, davon 8 gesperrt, da wir pro Schicht höchstens 12 Pflegekräfte sind. 3 ECMOs und 2 CCVHD (bei 11 Covid-Patienten), Station ist ständig abgemeldet. Kein Platz für Polytraumen und unsere Neurochirurgie. 18 freie Vollzeitstellen.“
„Es wird eingestellt, was man bekommen kann, keine Fachkräfte. Einarbeitung findet nur wenig statt für neue Pflegekräfte“, erzählt eine Intensivpflegerin. „Seit Januar 17 Pflegekräfte weg, nur teilweise Ersatz.“
Auf einen Arzt müsse man oft viel zu lange warten, wie eine weitere Krankenpflegerin erzählt: „Hatten sehr lange Mitarbeiter aus der Zeitarbeitsfirma, weil wir absolut kein Personal haben. Mit den gesperrten Betten kommen wir einigermaßen zurecht. Wir haben seit kurzem immerhin einen Anästhesisten bei uns sitzen, der zumindest vormittags da ist. Ansonsten keinen festen Arzt auf Station, unsere sind gefühlt immer überall nur nie bei uns. Bei Notfällen (Patienten blutet akut) kann es gut sein, dass man ein paar Stunden hinterher telefonieren muss bis jemand kommt.“
Was fehlt? Vor allem Zeit, wie sie anhand eines Beispiels veranschaulicht: „Wir haben sehr viel junges unerfahrenes Personal, Einarbeitung klappt kaum, ich hatte anstatt 1 Monat in jedem Bereich (Chirurgie, Innere) insgesamt 11 Tage Einarbeitung, Kollegen können einem oft nicht helfen, weil sie selbst keine Zeit dafür haben.“
„Herr Streeck hat ja mal einen Belastungstest für Intensivstationen gefordert. Also ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen soll“, sagte Intensivkrankenpfleger Ricardo Lange auf der Bundespressekonferenz am Donnerstag mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und RKI-Chef Lothar Wieler. „Solche Menschen […] sollen nochmal zu uns ins Krankenhaus kommen. Und dann können wir die Debatte von vollen oder leeren Intensivbetten gerne nochmal führen. Die Intensivstationen sind voll und da gibt es keinen Interpretationsspielraum.“
In seinem Vortrag betont er außerdem die körperliche Belastung, die das tägliche Arbeiten mit COVID-19-Patienten erfordert, wie zum Beispiel bei Bauchlagen, „die wir nun schon seit einem Jahr mehrmals täglich durchführen müssen. […] Es ist nicht nur körperlich anstrengend, diesen Patienten im Bett zu drehen, sondern es ist auch immer mit Risiken verbunden. Sie können sich vorstellen, wenn der Beatmungsschlauch rausrutscht, dann hat der Patient aufgrund seiner fehlenden Reserven ein Problem und schwebt in Lebensgefahr.“
Psychisch ist dieser Job derzeit herausfordernd wie nie, wie der Pfleger deutlich macht: „Dazu kommt, dass wir Pflegekräfte, wenn die Patienten dann leider verstorben sind, dann diese Menschen wieder zum Infektionsschutz in schwarze Plastiksäcke packen müssen. Wir legen sie dort hinein und ziehen den Reißverschluss zu und glauben Sie, wenn ich Ihnen sage, das macht was mit einem. Das ist nicht nur ein Mal, nicht zwei Mal, sondern unzählige Male. Da muss man sich als Mensch erstmal dran gewöhnen […] und ist seelisch manchmal schon sehr belastend.“
Dabei zeigt sich der Pfleger selbstreflektiert, erwartet aber auch von der Bevölkerung, die eigene Sichtweise immer wieder zu hinterfragen: „Nun muss ich auch dazusagen, dass ich als Intensivkrankenpfleger generell wahrscheinlich wie jeder Krankenpfleger einer gewissen Betriebsblindheit unterliege, das heißt also, ich sehe natürlich nur die schweren Verläufe. Ich sehe nur Menschen, die zum größten Teil daran versterben. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder in der Bevölkerung da draußen einen schweren COVID-Verlauf erleiden wird oder an dieser Krankheit versterben wird“, stellt Lange klar.
„Aber: Diese Betriebsblindheit möchte ich an Sie alle zurückgeben. Jeder, der nicht auf einer Intensivstation arbeitet, jeder, der nicht im privaten Umfeld davon betroffen ist, sieht die leichten Verläufe oder sieht vielleicht nur Menschen, die gar nicht an COVID erkranken. Und das wiederum heißt nicht, dass es diese schweren Verläufe nicht gibt.“
Auch Lange hat während der Pandemie eine Kündigungswelle miterlebt, ein Ende scheint nicht in Sicht zu sein. „Viele meiner Kollegen und Kolleginnen arbeiten seit einem Jahr an ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus. Viele Kollegen haben den Beruf schon verlassen und werden das auch in Zukunft weiterhin tun, wenn es so weitergeht und sich für uns nix ändert.”
Bildquelle: Gopal Vijayaraghavan, flickr