„Wie und warum Patienten LongCOVID gemacht haben.“ So lautet der Titel eines bemerkenswerten Artikels von zwei COVID-betroffenen Wissenschaftlerinnen in „Social Science and Medicine“. Er zeichnet nach, welchen Weg „LongCOVID“ innerhalb weniger Monate durch verschiedene Medienkanäle hin zu formalen klinischen und politischen Institutionen gegangen ist. Für Awareness-Kampagnen anderer Patientengruppen (z. B. mit psychosozialen Belastungen aufgrund von Chronischen Lungen-Erkrankungen) kann #LongCOVID zum Vorbild werden.
Paul Garner ist nicht irgendein COVID-Patient. Er ist Professor für Infektionskrankheiten an der Liverpool School of Tropical Medicine, Direktor des Center of Evidence Synthesis in Global Health und koordinierender Editor der Cochrane Infectious Diseases Group.
Sein Outing als LongCOVID-Betroffener (im Mai 2020) liest sich wie das Tagebuch eines Patienten mit fortgeschrittener Chronischer Lungenerkrankung: „Boomen und kaputtgehen – Du fühlst Dich großartig, machst ein bißchen mehr als sonst und stürzt am nächsten Tag ab.“
Der Eintrag endet mit einem Appell: „Wir alle brauchen in diesen Zeiten Freundlichkeit … Meine Vermutung ist, daß es eine Menge von uns da draußen gibt, und keiner von uns weiß, wie lange diese Erkrankung dauern wird.“
Professor Garner behält recht: Schon bald erscheint ein Manifest „von Ärzten als Patienten“. Die „wounded healers“ fordern dazu auf, fortdauernde Symptome nach einer COVID-Erkrankung zu erfassen und zu erforschen.
Bereits im August 2020 versichert der Generaldirektor der WHO bei einer Versammlung von COVID-Patientengruppen: „Wir haben Euer SOS erhalten. Wir haben laut und deutlich gehört, daß LongCOVID Beachtung, Leitlinien, Forschung und fortlaufende Patientenbeiträge benötigt, um ab jetzt die Antwort der WHO zu gestalten.“
Diese Aussage ist das Ergebnis eines bisher beispiellos erfolgreichen Awareness-Prozesses.
In ihrem Artikel „Wie und warum Patienten LongCOVID machten“ behaupten die beiden (selbst betroffenen) Autorinnen, LongCOVID sei die erste Krankheit, die von Patienten geschaffen wurde, die einander in den Sozialen Medien gefunden haben.
Sie verweisen dazu auf den Verlauf der Bewußtmachung:
Der patienten-initiierte Hashtag „LongCOVID“ ist Allgemeingut geworden und hat sein Awareness-Ziel erreicht…
… Für die Wissenschaftler beginnt jetzt unter Zeitdruck die „Feinarbeit“: Es muß Klarheit und Einigkeit über eine Definition geschaffen werden.
In den Codes der ICD-10-GM Version 2021 findet sich das Post-COVID-Syndrom unter den Schlüsselnummern für besondere Zwecke (vorläufig unter U09.9! Post-COVID-19-Zustand, nicht näher bezeichnet).
Typische Symptome teilt es mit G93.3 Chronisches Müdigkeitssyndrom [Chronic fatigue syndrome] Chronisches Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion, Myalgische Enzephalomyelitis, Postvirales Müdigkeitssyndrom.
Eine interessante integrative Klassifikation schlägt eine spanische Forschergruppe vor.
Sie betont die Bedeutung folgender Parameter:
In ihrem Klassifikations-Modell bilden die Forscher drei Patienten-Gruppen:
Gruppe 1: nicht-hospitalisierte Patienten mit COVID
Gruppe 2: hospitalisierte Patienten mit COVID
Gruppe 3: asymptomatische Patienten mit COVID
Für jede der Gruppen wird der Zeitverlauf in vier Phasen eingeteilt:
Transitions-Phase = wash out Phase mit COVID-assozierten Symptomen (bis zu 4-5 Wochen)
Phase 1: akute Post-COVID-Symptome (Woche 5-12)
Phase 2: langdauernde Post-COVID-Symptome (Woche 12-24)
Phase 3: persistierende Post-COVID-Symptome (länger als 24 Wochen)
Für alle Gruppen gehen die Forscher von folgenden inneren und äußeren Einflußfaktoren aus:
Innere Einflußfaktoren
Äußere Einflußfaktoren
FAZIT
Die integrative Klassifikation berücksichtigt die große Variabilität von Patienten-Erfahrungen im Zusammenhang mit COVID.
Ein asymptomatischer (möglicherweise nicht positiv getesteter) Patient hat andere Erfahrungen als ein langzeitbeatmeter oder ECMO-therapierteer ICU-Patient mit einem lebensbedrohlichen COVID-Verlauf.
Auch bleibende Organschäden bzw. eine möglicherweise dauerhaft veränderte Reaktion des Immunsystems finden Beachtung in dieser Klassifikation.
Alle aufgezeigten Entwicklungen – die soziologischen und die epidemiologischen – weisen den Weg zum zweiten Aspekt der „Feinarbeit“ für die Wissenschaftler angesichts von LongCOVID: die zeitnahe Erstellung von klinischen Behandlungs-Empfehlungen und Leitlinien.