Eine Sensitivität von 97 % soll ein neuer Corona-Test erzielen, der als Augen-Scan durchgeführt wird. Wenn man sich die Sache genauer ansieht, findet man: Nichts. Daten vom Hersteller gibt es nämlich keine.
In der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur tauchen zwei Begriffe immer häufiger auf: künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML). Künstliche Intelligenz bildet Abläufe im menschlichen Gehirn nach. Oft nutzen Forscher Tools des maschinellen Lernens. Sie geben ihrem Algorithmus in der Trainingsphase Datensätze mit weiteren Informationen, etwa Bilddaten inklusive einer Diagnose. Der Computer lernt selbstständig, die Struktur von Daten zu erkennen. Lösungen werden durch wiederholtes Ausprobieren und durch Feedback ermittelt. Das klingt zwar abstrakt, hat aber viel Bezug zur Praxis.
Vor allem in der Pathologie gibt es zahlreiche Proof-of-Concept-Studien. Laut einer Pilotstudie zur Diagnostik von Mammakarzinomen mit 70 Fällen verbesserte sich die Sensitivität bei der Detektion von Mikrometastasen von 83,3 % (ausschließlich Pathologe) auf 91,2 % (Pathologe und Algorithmus gemeinsam). Und bei der Analyse pigmentierter Hautläsionen zeigte sich, dass geringe Veränderungen der Fotos, etwa Verzerrungen durch die Optik, das Ergebnis von KI-Analysen negativ beeinflussen. Auch zur Früherkennung psychotischer Erkrankungsbilder wurden Algorithmen untersucht. Sie hatten eine hohe Sensitivität von 76 bis 88 %, aber eine niedrige Spezifität von 53,5 bis 66,8 %.
Beispiele gibt es ohne Ende. Sie zeigen Stärken und Schwächen der KI auf, haben aber eine Gemeinsamkeit: Ergebnisse wurden in Fachzeitschriften veröffentlicht; meist nach einem Peer-Review-Verfahren und oft zusammen mit Rohdaten. Bei Fragen stehen die Autoren zur Verfügung. Das ist nicht immer so.
Bestes Beispiel: Die ELECTRONIC GMBH aus Taufkirchen (Bayern) geht mit SEMIC EyeScan® an den Start. Vorgestellt wird ein „international patentiertes, rein nichtinvasives Testverfahren, das unter Nutzung einer ebenfalls patentierten Künstlichen Intelligenz (SEMIC EMILI®) in der Lage ist, innerhalb von nur 3-5 Minuten festzustellen, ob ein COVID-19-Infekt bei einer Testperson vorliegt“, heißt es auf der Website. „Mit dieser Methode wird durch eine Bildaufnahme des rechten oder linken Auges […] mit einem beliebigen Smartphone […] eine Sensitivität von 97% erzielt.“
Zusätzlich könne man eine Konjunktivitis, den Blutdruck, Puls und Körpertemperatur auslesen. Der neue Test soll einfach, schnell, und aufgrund des fehlenden Mülls auch umweltfreundlich sein.
Nur wie soll das gehen? Laut Hersteller braucht man ein Smartphone, dessen Kamera mindestens zwölf Megapixel Auflösung hat. SEMIC EyeScan analysiert danach die Bilddaten. Algorithmen der künstlichen Intelligenz sollen – so die Theorie – anhand von Farbnuancen der Lederhaut des Auges Corona-Infektionen erkennen. Speziell soll es sich um Rottöne handeln.
Dazu muss man sagen: Es reicht nicht aus, mit ein paar gehypten Modebegriffen um sich zu werfen und keine Daten zu präsentieren. Über Suchmaschinen für die wissenschaftliche Literatur konnte ich kein Paper finden. Auch meine Anfrage beim Hersteller blieb unbeantwortet.
Schlimmer noch: Forscher aus dem chinesischen Wuhan berichteten vor rund einem Jahr, dass Augen-Manifestationen bei SARS-CoV-2 eher selten auftreten. Von 535 Patienten hatten 27 eine akute und weitere 333 eine chronische Bindehautentzündung. Nur: Bindehautentzündungen sind mehr als unspezifisch. Sie können auch durch Allergien oder durch sonstige Infektionen, nicht nur durch SARS-CoV-2, ausgelöst werden. Das sieht alles nicht wirklich gut aus. Zweifel bleiben. Doch auf der Corona-Welle schwimmen alle gern mit.
Ob das Tool jemals auf dem Markt landen wird, ist momentan fraglich. Der Hersteller weist selbst darauf hin, dass es sich um keinen Schnelltest im Sinne des Infektionsschutzgesetzes handele. Derzeit gebe es auch keine Sonderfreigabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemäß Medizinproduktegesetz, § 11. Warten wir, wie das Institut entscheidet.
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