Jeder Veterinär kennt das Phänomen: Ein Sturz aus dem 3. oder 5. Stock richtet bei Katzen oft mehr Schaden an als der freie Fall aus Etage 7 oder höher. Wie kann das sein?
Im Mittelalter fürchteten sich viele Menschen vor Katzen: Sie kamen scheinbar immer mit dem Leben davon. Als Abbild Satans wurden sie gejagt und getötet – aber selbst einen Wurf vom Kirchturm überlebten die Vierbeiner meist. In der Bevölkerung verbreitete sich deshalb der Glaube, Katzen seien von Dämonen besessen und hätten die sprichwörtlichen sieben Leben. Dabei sind sie schlicht von der Natur perfekt ausgerüstet, bestimmte Stürze problemlos zu überleben.
Aber welche Fallhöhe ist für Katzen am gefährlichsten? Das Verblüffende: Je länger der Sturz, desto weniger verletzt sich oft die Katze.
Um ihre Beobachtungen festzuhalten, führten W.O. Whitney und C.J. Mehlhaff in den 1980er Jahren eine Studie durch, in der sie die Prinzipien der Anatomie und Physik auf fallende Katzen anwendeten. Die Tierärzte arbeiteten in einer Tierklinik in New York City, wo sie durch die örtlichen Gegebenheiten (Wolkenkratzer, viele offene Fenster, gepflasterter Boden) zusammen auf eine Fallsammlung von 132 Katzen kamen, die durch Stürze verletzt und in die Klinik gebracht worden waren. Und es war alles dabei: Stürze vom zweiten Stock bis zu einem Maximum von 32 Stockwerken – der Mittelwert lag bei 5,5 Stockwerken. Die meisten Katzen landeten nach einem freien Fall auf Beton. Und tatsächlich: In 90 Prozent der Fälle überlebten die Katzen (104 von 115). Elf Tiere starben, hauptsächlich aufgrund von Thoraxverletzungen und Schock.
Das Bemerkenswerte an den Ergebnissen war, dass die Inzidenz sowohl der Verletzungen als auch der Sterblichkeit bei Stürzen aus etwa sieben Stockwerken ihren Höhepunkt erreichte – und bei Stürzen aus größeren Höhen wieder abnahm. Zum Vergleich: Die Katze, die aus 32 Stockwerken frei auf Beton fiel, wurde nach 2 Tagen Beobachtung entlassen, nachdem sie nichts Schlimmeres als einen abgebrochenen Zahn und einen leichten Pneumothorax erlitten hatte.
Für den Menschen sind höhere Stürze mit steigender Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen Ausgang verbunden. Nur wenige Erwachsene überleben Stürze aus mehr als sechs Stockwerken auf Beton. Die häufigsten Todesursachen sind Kopfverletzungen und innere Blutungen.Whitney und Mehlhaff erörtern in ihrer Veröffentlichung: Bei Verletzungen durch Stürze spielen drei Variablen eine Rolle. Erstens bestimmt die Höhe des Sturzes die Aufprallgeschwindigkeit. Zweitens beeinflusst die Weichheit der Aufprallfläche den Bremsweg und damit die Aufprallkraft. Und drittens sind mindestens fünf Eigenschaften des fallenden Körpers selbst relevant:
Diese theoretischen Überlegungen lieferten dann mehrere Gründe, warum Katzen Stürze überleben, die erwachsene Menschen töten.
Je größer die Masse eines Objeks im Vergleich zu seiner Oberfläche ist, desto härter der Aufprall. Große Tiere sind im Allgemeinen verletzungsanfälliger als kleine, da sie eine größere Aufprallbelastung erleiden, ihre Knochen stärker beansprucht werden und sie aufgrund eines ungünstigeren Verhältnisses von Fläche zu Masse höhere Endgeschwindigkeiten im freien Fall erreichen. Schon ein kleiner Fall bricht einem Elefanten das Bein – fallende Mäuse erreichen ihre deutlich geringere Endgeschwindigkeit viel früher und haben dadurch eine geringere Aufprallbelastung.
Außerdem haben Katzen ein sehr sensibles Vestibularorgan und machen im freien Fall gyroskopische Drehungen, so dass alle vier Füße schnell nach unten zeigen, unabhängig von der Ausrichtung der Katze zu Beginn des Falls. Hierfür drehen sie zuerst ihren Vorderkörper, danach den Hinterleib. Der Schwanz steuert gegen und stabilisiert die richtige Position. Während des Fallens können sich Katzen so um ihre eigene Achse drehen. Sie verteilen die Aufprallkraft auf alle vier Gliedmaßen. Stürzende Erwachsene neigen dazu, unkontrolliert zu taumeln, landen aber am häufigsten auf beiden Füßen, am zweithäufigsten auf dem Kopf. Stürzende Babys neigen aufgrund ihres relativ großen Kopfes, der den Schwerpunkt verlagert, dazu, kopfüber zu landen, wobei sie reflexartig die Arme ausstrecken, um den Sturz abzufangen.
Eine fallende Katze erreicht eine Endgeschwindigkeit von etwa 80–100 km/h (im Vergleich zu etwa 180 km/h für erwachsene Menschen) nach etwa 30 Metern (sechs bis sieben Stockwerke). Solange die Katze beschleunigt, streckt sie ihre Gliedmaßen wahrscheinlich reflexartig aus, aber wenn sie ihre Endgeschwindigkeit erreicht hat, entspannt sie und streckt die Gliedmaßen (wie ein Flughörnchen) eher horizontal aus. Hierdurch wird nicht nur die Fallgeschwindigkeit verringert, sondern auch der Aufprall über einen größeren Bereich des Körpers abgefangen.
Schlussendlich leiten Katzen, die mit gebeugten Gliedmaßen landen, einen Großteil der Aufprallkraft über die Gelenke ab – ähnlich wie Fallschirmspringer, die darauf trainiert sind, Aufprallkräfte abzubauen, indem sie mit gebeugten Knien und Hüften landen und sich dann rollen. Kleine Hunde, die von Gebäuden fallen, sind anfälliger für schwerere Verletzungen. Die meisten Feliden-, aber nur wenige Caniden-Arten sind schon immer Baumbewohner, so dass sich Millionen von Jahren des Springens oder Fallens von Bäumen in ihrer Anatomie bemerkbar machen.
Dieses Phänomen der kritischen Fallhöhe kann wohl jeder Tierarzt in seiner Praxis beobachten. Auch bei Wohnungen in höheren Stockwerken sollten Katzenhalter darauf achten, Netze an Balkonen und Fenstern anzubringen, um ihre Tiere vor Stürzen zu bewahren.
Denn auf die sieben Leben sollte man sich nicht verlassen.
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