Viele Leukämie-Patienten überleben eine Stammzelltransplantation nicht, wenn es zu einer GvHR kommt. Neutrophile Granulozyten scheinen nach neuen Erkenntnissen eine zentrale Rolle zu spielen. Sie tragen dazu bei, Ausmaß und Verlauf besser einzuschätzen.
Für viele Patienten mit Blutkrebs ist eine Stammzelltransplantation die einzige realistische Chance auf Heilung von ihrer sonst tödlichen Erkrankung. Doch die Transplantation von fremdem Knochenmark, die nach einer Bestrahlung der Patienten erfolgt, birgt eine gefährliche Nebenwirkung: Die frischen Immunzellen können gesunde Zellen in Haut, Leber oder Darm des Empfängers angreifen und zerstören. Rund die Hälfte aller Patienten erkrankt innerhalb von 100 Tagen nach der Transplantation von Knochenmarkszellen an der akuten Form dieser sogenannten Graft-versus-Host-Reaktion (GvHR), die sich trotz Behandlung mit Immunsuppressiva nur bei 50 bis 60 Prozent der betroffenen Patienten unter Kontrolle bringen lässt. Zwar ist bekannt, dass sich das Erkrankungsrisiko erhöht, wenn eine bestimmte Gruppe von Genen zwischen Empfänger und Spender nicht vollständig übereinstimmt. Diese humanen Leukozyten-Antigene (HLA) kodieren Proteine, die auf der Oberfläche von Zellen sitzen und wichtig für die Regulation des Immunsystems sind. Doch bislang war nicht klar, welche Faktoren die GvHR genau auslösen. Ein Forscherteam der Universität Freiburg konnte vor Kurzem in einer Studie [Paywall] bei knochenmarktransplantierten Mäusen zeigen, dass eine bestimmte Klasse von weißen Blutkörperchen die gefährliche Immunreaktion vorantreibt.
Wie die Wissenschaftler um Robert Zeiser im Fachmagazin Nature Medicine berichteten, dringen die neutrophilen Granulozyten vor allem in den durch die Bestrahlung geschädigten Darm der Tiere ein. „Sie kommen dort mit den Darmbakterien in Berührung und verursachen eine lokale Entzündung“, erklärt Zeiser, Oberarzt an der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikum Freiburg. „Diese Entzündungsreaktion verstärkt wiederum die Spender-T-Zellen in ihrer Immunantwort gegen die Darmzellen.“ Außerdem, so der Forscher, produzierten die neutrophilen Granulozyten reaktive Sauerstoffverbindungen, die die Darmbarriere weiter undicht machten und so dafür sorgten, dass noch mehr Bakterien eindringen. Mithilfe weiterer Experimente gelang Zeiser und seinem Team der Nachweis, dass bei Mäusen, deren neutrophile Granulozyten in ihrer Funktion eingeschränkt waren, die GvHR schwächer ausfiel. Auch die Art der Darmflora beeinflusst wahrscheinlich den Verlauf der Erkrankung: Denn die verstärkte Einwanderung der neutrophilen Granulozyten in das Darmgewebe nach einer Bestrahlung blieb aus, wenn die Forscher für ihre Versuche Mäuse verwendeten, die unter keimfreien Bedingungen gezüchtet wurden und dadurch keine Darmflora besaßen. „Nicht die Reaktion der weißen Blutkörperchen gegen die Bakterien ist das eigentliche Problem, sondern die dadurch ausgelöste Signalkaskade, die den Angriff der T-Zellen auf das Darmgewebe erst richtig in Schwung bringt“, sagt Zeiser.
Auch bei stammzelltransplantierten Patienten scheint die Anzahl der neutrophilen Granulozyten im geschädigten Darm über den Verlauf einer GvHR zu entscheiden: Zeisers Team untersuchte mittels Kolonoskopie 37 Patienten, die sich einer Transplantation mit allogenen Blutstammzellen unterzogen hatten. Nur bei Patienten mit einer schwer verlaufenden GvHR befanden sich viele neutrophile Granulozyten im geschädigten Darm, bei allen anderen dagegen war die Zahl dieser Zellen deutlich geringer. Andere Experten finden die Publikation der Freiburger Arbeitsgruppe sehr spannend: „Zeiser und sein Team haben sehr gründlich die Rolle der neutrophilen Granulozyten bei der GvHR charakterisiert und gezeigt, dass sie an deren Entstehung einen großen Anteil haben“, findet Ernst Holler, Leiter der Allogenen Transplantation an der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III des Universitätsklinikum Regensburg. „Auch wenn die Ergebnisse von Experimenten mit Mäusen sich natürlich nicht immer eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen, so weisen auch Untersuchungen von stammzelltransplantierten Patienten im Regensburger Klinikum darauf hin, dass die Anzahl der neutrophilen Granulozyten bei einer GvHR zunimmt.“ Die Stärke der von den Granulozyten ausgelösten Entzündung, so der Forscher, entscheide wahrscheinlich darüber, ob und wie stark die T-Zellen überreagierten.
Auch wenn die gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen werden, Ausmaß, Stärke und Verlauf einer GvHR künftig besser einzuschätzen. Neue Therapieoptionen für Patienten mit einer GvHR werden daraus wahrscheinlich nicht entstehen: „Die Patienten brauchen funktionsfähige Granulozyten, um sich gegen Bakterien und Pilze zu schützen“, sagt Holler. „Deshalb wäre der Einsatz von selektiven Antikörpern, die die Granulozyten neutralisieren würden, mit viel zu großen Gefahren für die Patienten verbunden.“ Auch der Idee, die Bakterien im Darm der Patienten vor der Bestrahlung abzutöten, steht der Forscher skeptisch gegenüber, da dies selten vollständig gelingt und möglicherweise schädliche Bakterien übrig lässt: „In den vergangenen Jahren hat sich zudem immer mehr herausgestellt, dass im Darm viele verschiedene protektive Bakterienarten vorkommen, die notwendig sind, damit das Immunsystem korrekt funktioniert“, so Holler. Der Regensburger Wissenschaftler setzt in der Behandlung der GvHR eher darauf, diejenigen Patienten schneller zu identifizieren, die ein hohes Erkrankungsrisiko haben. Zusammen mit einem internationalen Kollegium hat er ein Scoring-System entwickelt, das auf drei Biomarkern basiert und den vermutlichen Schweregrad einer GvHR berechnet. Wie die Forscher im Fachmagazin Lancet Haemotology neulich mitteilten, ließ sich damit in einer Studie bei knapp 800 stammzelltransplantierten Patienten mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen, wie schwer die GvHR verläuft und ob sie auf die Erstlinientherapie mit Kortison gut ansprechen oder nicht.
Diese Ergebnisse könnten das bislang bei der GvHD eingesetzte Therapieschema schon bald verändern: „Zweitlinien-Medikamente kommen momentan erst zum Einsatz, wenn die Krankheit schon viel Schaden angerichtet hat, und erzielen dann selten den gewünschten Erfolg“, berichtet Holler. Deshalb planen er und seine Kollegen eine klinische Studie, in deren Rahmen stammzelltransplantierte Patienten eine risikoadaptierte Behandlung erhalten sollen. Studienteilnehmer mit einem hohen GvHR-Risiko könnten dann von Anfang an die wirkungsvollen Zweitlinien-Medikamente bekommen. Originalpublikation: Neutrophil granulocytes recruited upon translocation of intestinal bacteria enhance graft-versus-host disease via tissue damage [Paywall] Lukas Schwab et al.; Nature Medicine, doi: 10.1038/nm.3517; 2014