Wie wirksam Antidepressiva tatsächlich sind, vor allem verglichen mit Placebos, ist unter Experten schon lange eine Streitfrage. Eine der bislang umfangreichsten Metaanalysen zeigt: Antidepressiva wirken – wenn auch in unterschiedlichem Maße.
Viele Patienten, die aus ärztlicher Sicht Antidepressiva einnehmen sollten, sind verunsichert. Jeder dritte spricht nicht auf den zuerst verordneten Arzneistoff an, und Prognosen sind bislang nur im Labor möglich. Auch so manche Studie verunsichert Laien. Zuletzt kamen Forscher beispielsweise in einer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen zwar signifikant, aber dennoch nur geringfügig besser als Placebo wirken. Auch die vielzitierte Metaanalyse von Irving Kirsch aus dem Jahr 2008 sorgte für viel Gesprächsstoff. Der Forscher fand heraus, dass Antidepressiva bei leichten und mittelschweren Depressionen einen Effekt haben, der sich auf dem Niveau von Placebos bewegt. Bei schweren Erkrankungsformen gebe es einen – wenn auch geringen – Effekt, schreibt Irving. Jedes Paper rief Befürworter und Kritiker auf den Plan. Es wurde Zeit für bessere Daten. Jetzt versucht Andrea Cipriani vom Department of Psychiatry, University of Oxford, das wissenschaftliche Dickicht zu entwirren.
Zusammen mit Kollegen hat der Forscher eine der bislang umfangreichsten Metaanalysen veröffentlicht. Basis waren 522 Studien mit 116.477 Patienten und 21 der wichtigsten zugelassenen Antidepressiva, die jeweils randomisiert gegen Placebo verglichen worden sind. Cipriani kommt zu dem Ergebnis, dass alle Wirkstoffe bei schweren Depressionen besser als Scheinmedikamente wirken, was auch der ursprünglichen Argumentation von Kirsch entspricht. Allerdings untersucht Cipriani deutlich mehr Wirkstoffe. Gemessen an der Effektstärke schnitten bei ihm in alphabethischer Reihenfolge Agomelatin, Amitriptylin, Escitalopram, Mirtazapin, Paroxetin, Venlafaxin und Vortioxetin besonders gut ab. Auf der anderen Seite waren die Effekte bei den Medikamenten Fluoxetin, Fluvoxamin, Reboxetin und Trazodon eher mau. Hinsichtlich der Nebenwirkungen erwiesen sich Agomelatin, Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Sertralin und Vortioxetin als besonders verträglich. Amitriptylin, Clomipramin, Duloxetin, Fluvoxamin, Reboxetin, Trazodon und Venlafaxin wurden aufgrund unerwünschter Eigenschaften häufiger abgesetzt: ein entscheidender Risikofaktor in Hinsicht auf Therapietreue.
Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz, hat einen Blick auf die Veröffentlichung geworfen und zieht folgendes Fazit: „Die Studie zeigt in einer neuen, aufwendigen Analyse, dass alle in Deutschland zugelassenen Antidepressiva wirksame Medikamente zur Behandlung von Depressionen sind.“ Über alle Wirkstoffklassen hinweg seien Antidepressiva leicht bis moderat der Behandlung mit einem Scheinmedikament überlegen. Dass Amitriptylin als vergleichsweise alter Arzneistoff hinsichtlich seiner Wirkung gut abschneidet, überrascht den Experten nicht. Dies hätten bereits frühere Studien gezeigt. „Neuentwicklungen sind also nicht automatisch die besseren Medikamente“, so Lieb weiter.
Gleichzeitig warnt er davor, Pharmaka anhand der Metaanalyse abzugeben. Im begleitenden Kommentar zur Studie priorisiert Sagar V. Parikh von der University of Michigan u.a. Agomelatin. Lieb kritisiert diese Entscheidung: „Es ist im Vergleich zu anderen Antidepressiva nur schwach wirksam, erreicht aber aufgrund seiner in der Kurzzeitbehandlung sehr guten Verträglichkeit einen Spitzenplatz“, erklärt er. „Das ist eine ziemliche Verzerrung – ich würde nie empfehlen, mit Agomelatin eine Behandlung einer schweren Depression zu starten.“ Er rät vielmehr, Medikamente individuell anhand von Wirksamkeit und Verträglichkeit auszuwählen.