50 Kilometer bis zum nächsten freien Bett – Deutschlands Intensivmediziner erzählen von ihren Erlebnissen. Von Klinikleitungen fordern sie: „Hört auf zu lügen und sagt, wie es ist.“
„Wie hoch sollen die Zahlen denn noch steigen, bevor ihr reagieren wollt?“ Diese Frage stellte Christian Karagiannidis, Leiter des DIVI-Intensivregisters, gestern in Hinsicht auf die Intensivbetten-Situation in Deutschland.
„Städte wie Bonn oder Bremen oder Köln haben kaum noch freie Betten für den nächsten Herzinfarkt, Verkehrsunfall oder COVID-Patienten! Und einen instabilen Patienten kann man NICHT einfach dorthin verlegen wo gerade Platz ist. Ein freies Bett in Ostwestfalen hilft da NICHT“, kritisiert der Mediziner.
„Heute im Nachtdienst wieder fröhliche Intensivbettenrochade. Für den höchst instabilen Patienten nach Not-OP wurde mitten in der Nacht ein Patient auf die IMC verlegt, weil alle Intensivbetten belegt oder wegen Personalmangel gesperrt waren. Und am Morgen konnten wir für den Notfall im Schockraum die nächste Runde ‚Deutschland sucht das Intensivbett‘ spielen“, beschreibt eine Narkoseärztin, wie sie die aktuelle Situation erlebt.
Mit diesem Problem ist sie nicht allein, wie aus unzähligen Berichten hervorgeht. „Wir haben die doppelte Anzahl an Betten (bei gleichem Personal) und die doppelte Fläche in unserer Notaufnahme. Aktuell sind wir regelmäßig voll und RTWs warten bis zu einer Stunde auf Übernahme“, berichtet ein Akutmediziner und Kardiologe.
Um das Verhältnis von Corona- und Nicht-Corona-Patienten zu veranschaulichen, beschreibt es die Klinik für Anästhesiologie der Uni Göttingen in einen an den SPD-Politiker Stephan Weil gerichteten Post so: „Unsere Intensivstation versorgt normalerweise 30 Patienten mit Problemen aus dem Gebiet operativer Intensivmedizin (also Unfälle, Hirntumoren, Gynäkologie, Herzchirurgie). Aktuell versorgen wir auf 18 von diesen 30 Betten COVID-PatientInnen.“ Um das Problem noch deutlicher zu machen, ergänzt die Klinik: „Das heißt, wir haben weniger als die Hälfte unsere Betten für die Sicherstellung der Versorgung von Verkehrsunfällen, Hirnblutungen und Herzinfarkten zu Verfügung. Die Inzidenz dieser Fälle hat sich aber nicht halbiert.“
„Um es mal klar zu sagen: Wir HABEN ein Versorgungsdefizit“, meldete sich gestern der Blogger Narkosedoc auf Twitter zu Wort. „Einen Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht in die nächste (2 km), übernächste (12 km) oder überregionale (23 km) Klinik fahren zu können, sondern fast 50 km (!) um das nächste ‚freie Bett‘ zu bekommen.“
„Habe aktuell Schwierigkeiten, Betten für Patienten im Rettungsdienst zu organisieren. Insbesondere Intensiv- oder Isolationsbetten. Gesichert COVID-positive Patienten, normalstationsfähig: Trotz Melderegisterabfrage ~30 Minuten telefoniert und dann weit gefahren“, schreibt ein weiterer Anästhesist, Notfall- und Intensivmediziner.
Die Konsequenzen beschreibt Narkosedoc so: „Um hausinterne Notfälle nach Reanimation o. ä. versorgen zu können, müssen wir Patienten auf Normalstation verlegen, die da noch nicht hingehören. Manche schaffen es, andere kommen ein paar Stunden/Tage später in deutlich schlechterem Zustand wieder auf Intensiv. Manche müssen reanimiert werden, manche sterben. Und wieder werden sich die Klinikleitungen und die Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit hinstellen und sagen, wie prima alles läuft und dass alle super versorgt sind. Sind! Sie! Nicht! Hört auf, zu lügen, sagt es, wie es ist.“
Wie geht es weiter? „Wir bekommen gefühlt von Stunde zu Stunde mehr Patienten, obwohl wir abgemeldet sind. Die anderen Kliniken sind nämlich auch abgemeldet und wenn alle abgemeldet sind – sind alle wieder offen“, schildert der Narkosearzt das Zukunftsszenario.
Inzwischen landen auch immer öfter junge Menschen aufgrund einer schweren Erkrankung an COVID-19 auf der Intensivstation – ein Faktor, der sich auf den Belegungsdruck noch zusätzlich auswirkt. „Wir sind aktuell von der ITS-Belegung wieder auf dem Niveau der zweiten Welle und der Belegungsdruck von den Normalstationen wächst weiter, insbesondere weil die Patienten jünger sind, später kommen und deutlich länger im Krankenhaus und ITS behandelt werden“, fasst ein Intensivmediziner die aktuellen Entwicklungen zusammen.
„An der Universitätsklinik Köln Absagen von Operationen, um die zunehmende Zahl von Intensivpatienten mit COVID-19 zu behandeln. Viele davon sind jung und werden es nicht überleben. Zeit zu handeln!“, fordert Prof. Michael Hallek vom Universitätsklinikum Köln.
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