Kollektives Zuhausebleiben kann COVID-19-Todesfälle nicht verhindern – so lautet das Fazit einer Arbeit, die Lockdown-Gegnern in die Hände spielt. Warum es sich um eine Quatsch-Studie handelt, lest ihr hier.
Auf den ersten Blick erscheint das Ganze höchst seriös. Immerhin ist die Studie in Scientific Reports erschienen, einem open-access-Journal inklusive Peer Review der Nature Publishing Group. Wird da nicht nur hochwertige Wissenschaft publiziert? Nicht unbedingt, wie man im Fall Savaris et al. einmal mehr sehen kann.
Wie kommen die Autoren zu ihrer Schlussfolgerung? In der Studie verglichen Savaris et al. Gebiete hinsichtlich ihrer COVID-19-Todesfälle pro einer Million Einwohner mit Google-Mobilitätsdaten. Insgesamt flossen die Daten von 87 Gebieten ein, darunter ganze Länder oder große Bundesstaaten.
Das ernüchternde Ergebnis: Orte, an denen die Menschen viel Zeit zu Hause verbrachten, wiesen eine ähnliche hohe COVID-19-Todesfällen pro einer Million Einwohner auf wie Orte, an denen das nicht der Fall war. Ihr Fazit: Zuhausebleiben während der Pandemie bringt nichts. Doch die Studie hat ein großes Problem. Die verwendeten Daten sind für die Analyse überhaupt nicht zu gebrauchen.
Die Autoren benutzen für ihre Analyse Mobilitätsdaten von Google. Was eigentlich ein wertvoller Datenschatz ist, sorgt in dieser Studie eher für Verwirrung. Eine kleine Erklärung dazu vorab: In die Mobilitätsberichte von Google, die hier einsehbar sind, fließen ständig anonymisierte Standortdaten von Usern ein. Dabei unterscheidet Google zwischen verschiedenen Kategorien, z. B. Arbeitsstätten, Einzelhandel, Parks und Bahnhöfen. Wichtig zu erwähnen ist, dass in den Mobilitätsberichten nur Veränderungen dargestellt werden und keine absoluten Zahlen.
Für ihre Studie haben die Wissenschaftler ausschließlich die Mobilitäts-Kategorie „Wohnen“ benutzt. Diese zeigt Änderungen der Aufenthaltsdauer von Usern in Wohngebieten bzw. zu Hause an. Das ist anders als bei Kategorien wie etwa „Arbeitsstätten“ oder „Parks“, in denen die Änderungen der Gesamtzahl der Besucher ermittelt wird. Die Benutzung dieses Wohnen-Datensatzes für die Analyse ist allerdings problematisch.
Die Daten sind deswegen nicht besonders gut zu gebrauchen, weil die meisten Menschen sowieso schon mehr als 12 Stunden am Tag zu Hause sind – auch an Arbeitstagen und unabhängig davon, ob eine Pandemie wütet oder nicht. Die Kategorie „Wohnen“ weist deswegen per se wenig Veränderungen auf, wie die Grafik aus Googles Mobilitätsbericht zeigt. Auf diesen Umstand weist sogar Google selbst in der Erläuterung zu den Mobilitätsdaten hin.
Beispiel für einen Mobilitätsbericht für Deutschland von Google in der Kategorie „Wohnen“. Der Trend unterliegt wenig Veränderungen.
Ein Beispiel, um die geringe Aussagekraft zu verdeutlichen: Man stelle sich vor, dass während der Pandemie plötzlich 50 % der Bevölkerung zu 100 % von zu Hause aus arbeiten würden. Die „Büromobilität“ würde dadurch um 50 % reduziert werden, weil nur noch die Hälfte der Personen ins Büro fahren und dort von Google getrackt werden. Die „Wohnmobilität“ würde aber nur um einen Bruchteil steigen, weil die meisten Menschen sowieso schon einen großen Teil ihres Tages zu Hause verbringen (z. B. mit Schlafen). Viel Bedeutung kann man den „Wohnen“-Daten also gar nicht beimessen – wir können daran schlicht nicht ablesen, ob die Menschen mehr oder weniger zuhause waren.
Auch problematisch ist, dass nur die Daten von Usern einfließen, die Google auf ihrem Smartphone benutzen und dort aktiv ihren Standortverlauf freigeben – das ist standardmäßig ausgeschaltet. Man kann davon ausgehen, dass die Gruppe der über 65-Jährigen, in der es den Großteil der Todesfälle gibt, hier unterrepräsentiert ist.
Es hört hier mit den Schwierigkeiten auch noch nicht auf: Die Autoren haben in vielen Fällen die Mobilitätsberichte und Todesfallzahlen ganzer Länder miteinander verglichen, z. B. Spanien und USA. Doch schon innerhalb eines Landes gibt es erhebliche Unterschiede, was Lockdown-Strategien angeht. Wie soll man da einen möglichen Zusammenhang zwischen Zuhausebleiben und COVID-Todesfällen erkennen können?
Diese Studie kann eben nicht zeigen, dass Zuhausebleiben die COVID-19-Mortalität nicht senken kann. Sie ist bestenfalls ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, diese Frage zu beantworten. Inzwischen ist auch auf der Seite von Scientific Reports dahingehend eine Notiz zu finden. Sie informiert darüber, dass die Schlussfolgerung der Autoren von Lesern vielfach kritisiert wurde. Hoffentlich überdenken die Autoren ihre Veröffentlichung und gießen nicht noch mehr Öl ins Feuer.
Bildquelle: United Nations COVID-19 Response, unsplash