Die Auswertung einer Erbgut-Sequenzierung fördert zuweilen Risikoallele für schwerwiegende Leiden zutage, nach denen gar nicht gesucht wurde und die der Patient vielleicht mit seinen Angehörigen teilt. Soll der Arzt nach dessen Ableben die Verwandten darüber informieren?
Ohne die Zellen der vor über 60 Jahren verstorbenen Trägerin hätte sich die medizinische Forschung sehr viel schwerer getan. Zwei Nobelpreise gehen auf Arbeiten mit den unsterblichen HeLa-Zellen zurück. Erst in den 70er Jahren erfuhren die Angehörigen von Henrietta Lacks, dass die von ihrem Arzt in Umlauf gebrachten Tumorzellen zu bedeutenden Forschungs-Utensilien geworden waren. Vor zwei Jahren nahmen sich Forscher dann des Genoms dieser Zellen an. Auch in diesem Fall sahen die Angehörigen die Daten erst nach der Publikation. Es waren Daten, die damit auch ihr eigenes Erbgut betrafen. Inzwischen wurde die Veröffentlichung zurückgezogen. Die Sequenzen sind jetzt nur auf Anfrage und bei nachgewiesenen Forschungsvorhaben einzusehen. Dem Gremium, das über solche Anträge entscheidet, gehören zwei Familienmitglieder der Lacks' an.
HeLa-Zellen haben ihr Genom im Laufe unzähliger Passagen vielfach verändert. Möglicherweise sind daher viele Mutationen ein Artefakt, das sich im Stammbaum der Familie nicht wiederfindet. Etwas anders sieht es bei Patienten aus, die ihr Genom sequenzieren lassen, um einen Krankheitsverdacht abzusichern. In der Analyse finden sich möglicherweise auch brisante Informationen, die das Leben von Familienangehörigen beeinflussen, weil sie zum Beispiel Risikoallele für schwere Leiden enthalten. Hat der Patient nicht schon zu seinen Lebzeiten sein Wissen darum an seine Familie weitergegeben, steht der Arzt nach dem Tod seines Schützlings vor dem Dilemma: Darf er die Informationen zurückhalten und so vielleicht dem Willen seines verstorbenen Patienten entsprechen oder steht seine Verantwortung für die noch lebenden Verwandten höher? Immer öfter greifen Ärzte zum Mittel der Sequenzierung des gesamten Genoms (WGS = Whole Genome Sequencing) oder zumindest zum Auslesen der kodierenden Regionen (Exon-Sequenzierung). In den USA hat die Gesundheitsbehörde FDA 2013 einen Sequenzierapparat für die klinische Routine zugelassen. Die Kosten für den Scan sind mit rund 5.000 Dollar relativ überschaubar und werden künftig weiter sinken. Weiter steigend ist dagegen die Zahl der monogenetischen Krankheiten, die genau im Genom kartiert werden können. Von den rund 4.200 familiären Erbkrankheiten sind rund 600 mit Ortsbeschreibung im Erbgut, klinischer Diagnose und Behandlungsoptionen bekannt, Leitlinien gibt es für rund 120 dieser Krankheiten.
Sowohl für als auch gegen die Weitergabe von Daten des Verstorbenen gibt es gute Argumente. Sarah Boers und ihre Kollegen von der Universität Utrecht haben sie in einem Artikel [Paywall] in „Trends in Molecular Medicine“ zusammengetragen. Besonders dann, wenn die Daten eine realistische Gefahr für eine ernste, vielleicht sogar lebensbedrohende Krankheit voraussagen und wenn es gute Behandlungsmöglichkeiten dafür gibt, sollte ein Arzt seinen Auftrag, zu heilen, nicht nur auf seinen (ehemaligen) Patienten begrenzen. Möglicherweise hilft die Kenntnis eines Risikogens auch bei der Suche nach der Herkunft einer häufigen Krankheit im Familienstammbaum. Die Information über Krankheitsrisiken betrifft mitunter auch das Selbstbestimmungsrecht der nächsten Verwandten des Patienten: Der Verzicht auf eigene Kinder oder eine Änderung der Lebensplanung. Gehört das Genom und seine Informationen darüber nur dem Patienten allein oder ist es quasi Familieneigentum? Bei letzterem hätten die Angehörigen ein Recht auf die Daten, die auch ihr Leben entscheidend beeinflussen können. Konsequent berücksichtigt bedeutet das aber auch, dass Menschen nach der von ihnen selber gewünschten Analyse ihres Erbguts nicht mehr frei darüber entscheiden können, was sie mit diesen Informationen letztendlich geschieht. Die niederländischen Autoren argumentieren daher gegen die Auffassung als „Familienbesitz“, sehen aber durchaus, dass die Verantwortung für den, der um die Daten und deren Bedeutung weiß, über den Besitzer des Untersuchungsmaterials hinausgeht.
Wer aber darum weiß und sein Wissen für sich behält, hat auch gute Gründe und Argumente auf seiner Seite. Genauso wie für den Patienten selber gibt es auch für die Verwandten ein Recht auf „Nicht-Wissen“. So entscheiden sich selbst beim Wissen um das Vorkommen des „Brustkrebs-Allels“ BRCA1/2 in der Familie je nach Untersuchung nur 50 bis 75 Prozent aller Frauen für den Gentest. Eine ungefragte Information über eine „Vielleicht-Gefahr“ für das eigene Leben verletzt möglicherweise die Autonomie zusätzlich zur Privatsphäre des Angehörigen, der den Arzt seines verstorbenen Onkels vielleicht noch nicht einmal kennt. Damit kann jener sogar der psychischen Gesundheit des Betroffenen schaden, ein Prinzip, das dem ärztlichen Berufsethos völlig zuwiderläuft. Wie beim letzten Willen eines Verstorbenen reichen die Wünsche und das Vertrauen auf deren Erfüllung über den Tod hinaus. Der Arzt sollte sich daher die Frage stellen, ob es Gründe für das Stillschweigen seines Patienten gegenüber der Familie gab. Darf er die Vertraulichkeit und das Arztgeheimnis nach dem Tod brechen? Wie viel Aufwand ist gerechtfertigt, um Verwandte überhaupt erst ausfindig zu machen? Und letztendlich kommt auch dem Urteil des Arztes eine entscheidende Rolle zu, wie valide die entsprechenden Gen-Befunde sind. Eine kritische Überprüfung kostet nicht nur wertvolle Zeit, sondern unter Umständen auch Geld. Die niederländischen Autoren plädieren bei der Frage nach einer aktiven oder passiven Weitergabe der Daten an Verwandte für die passive Lösung. Nur wenn Angehörige selbst auf den Arzt zukommen, sollten sie ihr Recht auf Wissen ausüben können. In dringenden Notfällen und bei schnellem Handlungsbedarf, so Sarah Boers, wäre allerdings das aktive Handeln des Arztes geboten.
Das American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) hat 2013 eine Liste mit 56 Genen erstellt und veröffentlicht, die mit 24 schwerwiegenden Erkrankungen assoziiert sind. Alle diese Erkrankungen können gut behandelt werden oder kommen mit geeigneter Prävention gar nicht erst zum Ausbruch. Den Sequenzier-Laboren empfiehlt die ACMG, die Auswertung für diese Gene in jedem Fall in ihrer Ergebnis-Übermittlung an den Arzt einzuschließen. Schließlich, so zeigte eine multiethnische Studie [Paywall] vor zwei Jahren mit rund 1.000 Teilnehmern, kommen Mutationen in einer dieser Loci bei über drei Prozent aller Probanden europäischer Abstammung vor. Nicht für den expliziten Todesfall des Patienten, sondern eher für den Normalfall sollen Entscheidungshilfen der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik (ESHG) dienen, die schreibt: „Das Patientenrecht auf Nicht-Wissen steht nicht automatisch über der Verantwortung des Arztes, wenn die Gesundheit des Patienten oder die seiner Verwandten auf dem Spiel steht.“ Weiterhin empfiehlt die ESHG, auch Mutationen mit noch nicht aufgeklärter Bedeutung zu dokumentieren. Möglicherweise ist die Forschung erst in etlichen Jahren soweit, diese Befunde bestimmten Krankheiten zuzuordnen. Das Gleiche gilt für Befunde, bei denen zusätzlich zur Mutation ein weiterer Auslöser für den Krankheitsausbruch hinzu kommt, also zum Beispiel die Einnahme eines bestimmten Wirkstoffs oder eine Veränderung in der Umwelt des Patienten. Eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient – möglichst lange vor seinem Ableben – kann viele dieser Probleme umgehen. Denn die Ergebnisse einer Genomanalyse betreffen nicht immer nur die Gesundheit des Patienten, sondern auch die seiner Verwandten. Schon vor der Analyse sollte deswegen klar sein, was mit Zusatzbefunden geschieht, auch dann, wenn der Arzt vielleicht die Rolle des „Testamentsvollstreckers“ übernehmen muss.