Weil Sitzen der beliebteste Volkssport ist, haben es die Rückenschmerzen geschafft: Sie sind die zweitwichtigste Einzeldiagnose bei Krankschreibungen. Wohlmeinende Ärzte tun alles dafür, dass der „Rücken“ diese Position behält. Wir verraten, was.
3,7 Millionen Krankschreibungen pro Jahr werden in Deutschland durch Rückenleiden verursacht. Für über 75 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage sind Rückenschmerzen verantwortlich. Die wirtschaftlichen Kosten werden auf 15 Milliarden Euro geschätzt. Die Aufgabe von Medizinern ist es, dieses Leiden zu behandeln. Oft machen sie es aber noch schlimmer.
Der Symptomkomplex „Rückenschmerz“ war im letzten Jahr unter Arbeitnehmern für so viele Fehltage verantwortlich wie seit Langem nicht mehr. Die Ausfalltage wegen Rückenschmerzen stiegen im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent an, so geht es aus der aktuellen Krankenstands-Analyse der DAK-Gesundheit hervor. Laut Auswertungen der Techniker Krankenkasse (TK) zu den Arbeitsunfähigkeiten der TK-versicherten Erwerbstätigen waren es sogar 8,5 Prozent.
In der Coronapandemie seien Rückenerkrankungen bedeutsamer geworden, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Durch Lockdown und Homeoffice hat sich die Arbeitswelt drastisch gewandelt. Die Menschen verharren noch länger bewegungslos vor dem Bildschirm und in vielen Branchen steigt die Arbeitsdichte. Wir sehen eine höhere Anspannung im Allgemeinen, was offensichtlich zu einer Zunahme von Fehltagen wegen Rückenschmerzen und bestimmten psychischen Diagnosen führt.“
Anlass genug, sich dem Thema Rücken und der optimalen Behandlung dieses Leidens zu widmen – letztere erhält nämlich nur ein Teil der Patienten, wie es scheint. Woran hapert es? Die drei wesentlichsten Baustellen haben wir uns genauer angesehen.
Mehr als 20.000 Menschen werden in Baden-Württemberg pro Jahr an der Wirbelsäule operiert. Einer Analyse der Techniker Krankenkasse (TK) zufolge, könnte ein Großteil dieser Eingriffe unnötig sein. Das ergab die Auswertung eines speziellen Zweitmeinungsangebots der TK für die Jahre 2013 bis 2019. Bei der Zweitbegutachtung von mehr als 6.000 Betroffenen in bundesweit 30 Schmerzzentren bekamen, laut Auswertung, acht von zehn Teilnehmern die Empfehlung, sich konservativ behandeln zu lassen.
„In den meisten Fällen ist es bei Rückenpatienten zielführender, mit Physiotherapie, Schmerzmitteln, Trainings- und gegebenenfalls auch einer Verhaltenstherapie zu behandeln“, erklärt Dr. Dieter Heinold, Orthopäde an der Praxisklinik an den Heilquellen in Freiburg. „Wichtig für die kausale und erfolgreiche Behandlung ist eine detaillierte Befragung und Untersuchung der Patienten. Eine Operation ist immer auch ein Risiko und sicher keine Garantie für langfristige Schmerzfreiheit.“
Andreas Vogt, Leiter der TK-Landesvertretung räumt ein, dass man nicht pauschal von einer Operation am Rücken abraten kann, die Anzahl der überflüssigen Eingriffe aber hoch sei. „Möglicherweise sind Patienten, die eine Zweitmeinung in Anspruch nehmen, nicht repräsentativ für die Gesamtheit aller Rückenpatienten. Dennoch gehen wir davon aus, dass die Mehrheit nicht operiert werden müsste.“
„Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz deckt Osteopathie Zusammenhänge auf mit dem Ziel, Schmerzen im Vorfeld zu verhindern, zu lindern oder zu beheben. Behandelt man symptombezogen nur die Beschwerden und nicht deren Ursachen, wird häufig beobachtet, dass die Rückenschmerzen zurückkehren“, sagt Prof. Marina Fuhrmann, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Osteopathen Deutschland (VOD). Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa mit rund 2.200 Bürgerinnen und Bürgern ist die Osteopathie bei den Deutschen beliebt: Fast jeder fünfte Bundesbürger war bereits bei einem Osteopathen in Behandlung.
In einer aktuellen in JAMA Internal Medicine veröffentlichten Studie wurden die Auswirkungen einer osteopathischen Behandlung mit denen einer Scheinbehandlung verglichen. In der randomisierten klinischen Studie wurde dabei der Einfluss der Behandlung auf Aktivitätseinschränkungen bei Patienten mit unspezifischen Kreuzschmerzen untersucht. Hierfür erhielten zwischen Februar 2014 und Oktober 2017 Patienten mit unspezifischen subakuten oder chronischen Schmerzen des unteren Rückens jeweils sechs Behandlungen (eine alle zwei Wochen). 197 Patienten erhielten eine osteopathische Standardbehandlung und ebenso viele eine Scheinbehandlung. Im Mittel hatten die Teilnehmer seit 7,5 Monaten Rückenbeschwerden.
Mithilfe der Quebec Back Pain Disability Scale sollten die Patienten nach 3 und 12 Monaten ihre Einschränkungen beurteilen. Nach 3 Monaten waren die schmerzbedingten Bewegungseinschränkungen der Patienten in der Osteopathie-Gruppe auf dieser 100-Punkte-Skala um 4,7 Punkte zurückgegangen, während es bei den Patienten mit Schein-Behandlung 1,3 Punkte waren. Der mittlere Unterschied zwischen beiden Gruppen lag folglich bei 3,4 Punkten. Nach 12 Monaten waren es 4,3 Punkte zugunsten der osteopathischen Behandlung.
Statistisch war das signifikant, aber war es auch relevant? Bei der Erfassung von Schmerzen auf einer 100-Punkte-Skala war der Unterschied beider Gruppen mit einem Punkt nach 3 Monaten und 2 Punkten nach 12 Monaten, jeweils zugunsten der Osteopathie, zumindest nicht signifikant. Mehr noch: Es gab auch keine Unterschiede in Bezug auf gesundheitsbezogene Lebensqualität (health-related quality of life, HRQOL), Arbeitsausfall oder Verbrauch von Analgetika und nichtsteroidalen Antirheumatika. Alles in allem also ein mageres Ergebnis für die hier zu Lande beliebte Behandlungsmethode.
Auch Antidepressiva sind bei Rücken- und Arthroseschmerzen weitgehend unwirksam, obwohl sie bei diesen Erkrankungen gerne verordnet werden. Das legt eine im Januar veröffentlichte Übersichtsarbeit nahe. Viele klinische Leitlinien empfehlen die Einnahme von Antidepressiva bei chronischen Rückenschmerzen sowie bei Hüft- und Kniearthrose, doch die Evidenz für deren Einsatz ist unsicher.
Um diese Wissenslücke zu schließen, untersuchten Forscher um Giovanni Ferreira von der University of Sydney die Wirksamkeit und Sicherheit von Antidepressiva bei Rücken- und Arthroseschmerzen im Vergleich zu Placebo. Ihre Ergebnisse basieren auf der Analyse veröffentlichter Daten aus 33 randomisierten kontrollierten Studien, an denen mehr als 5.000 Erwachsene mit Kreuz- oder Nackenschmerzen, Ischiasbeschwerden oder Hüft- oder Kniearthrose teilnahmen. Die Studien waren unterschiedlich konzipiert und von unterschiedlicher Qualität, was von den Forschern jedoch berücksichtigt wurde.
Die Ergebnisse zeigten, dass Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRIs) die Rückenschmerzen nach drei Monaten reduzierten. Der Effekt war jedoch gering – es ergab sich ein durchschnittlicher Unterschied von 5,3 Punkten (im Vergleich zu Placebo) auf einer Schmerzskala von 1 bis 100, welcher von den meisten Patienten wahrscheinlich nicht als klinisch bedeutsam wahrgenommen würde. Bei Osteoarthritis fanden die Wissenschaftler einen etwas stärkeren Effekt von SSNRIs auf die Schmerzen. Nach drei Monaten konnten sie einen durchschnittlichen Unterschied zu Placebo von 9,7 Punkten auf der Schmerzskala feststellen.
Bei den trizyklischen Antidepressiva (TCAs) wurde kein Effekt auf Rückenschmerzen festgestellt. Die Autoren argumentieren schließlich, dass medikamentöse Behandlungen „bei Rückenschmerzen und Osteoarthritis weitgehend unwirksam sind und das Potenzial für ernsthafte Schäden haben. Wir müssen härter daran arbeiten, Menschen mit diesen Erkrankungen zu helfen, besser mit ihren Schmerzen zu leben, ohne auf den Rezeptblock zurückzugreifen.“
Bildquelle: Yunshui, Wikimedia Commons