Bei der tiefen Hirnstimulation können mittels implantierter Elektroden kleinste funktionelle Regionen elektrisch stimuliert werden. Neue Implantate können jetzt krankhafte Erregungsmuster erkennen und gezielt eingreifen.
Etwa 100 Jahre nach der Entdeckung der elektrochemischen Informationsübertragung im Gehirn ist die Klinische Neurophysiologie heute in der Lage, gezielt in die krankhaft veränderten zerebralen Funktionsnetzwerke des Gehirns einzugreifen. Damit therapiert sie Fehlfunktionen des Gehirns, die zu Krankheiten führen.
Schlüsseltechnologie ist die Tiefe Hirnstimulation (THS), bei der mit ins Gehirn implantierten Elektroden zum Teil kleinste funktionelle Regionen gezielt elektrisch stimuliert werden können. Diese Mensch-Maschine-Schnittstelle ist seit einigen Jahren bei der Parkinson-Krankheit etabliert, inzwischen auch bei Dystonie und essenziellem Tremor zugelassen.
„In den kommenden Jahren wird die THS mittels künstlicher Intelligenz einen riesigen Entwicklungssprung machen“, prophezeit Prof. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum in Würzburg.
Viele neurologische Erkrankungen, die mit einer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit einhergehen, sind Ausdruck einer gestörten Kommunikation zwischen verschiedenen motorischen Hirnarealen. Man spricht von Netzwerkerkrankungen. Für diese Erkrankungen steht eine Reihe vielversprechender Behandlungsverfahren zur Verfügung, darunter die Tiefe Hirnstimulation mit Schrittmachersystemen, die durch die gezielte Stimulation von Nervenzellen die motorische Netzwerkaktivität regulieren und damit heute schon erfolgreich Symptome von Patienten mit Parkinson, schwerem Zittern oder Dystonien lindern können.
Das Stichwort lautet Neuromodulation. Derzeit wird die THS auch für psychiatrische Erkrankungen wie Depression oder Zwangserkrankungen entwickelt. „Netzwerkerkrankungen des Nervensystems sind allerdings nur dann in den Griff zu bekommen, wenn die Medizin lernt, mit großen Datenmengen umzugehen und künstliche Intelligenz einzusetzen“, betont Volkmann. Es tue sich derzeit ein großes neues Berufsbild des Medical Data Scientists auf.
„Neuere Ansätze der Neuromodulation zielen jetzt darauf ab, die zeitliche Dynamik gestörter Netzwerkaktivität zu erfassen und dann adaptiv zu stimulieren, wann immer fluktuierende Symptome es erforderlich machen“, so Volkmann. Das Implantat ist damit gleichzeitig Sensor und stimulierende Elektrode. Es erkennt über intelligente Algorithmen krankhafte Erregungsmuster und greift gezielt ein.
Für PatientInnen mit einem Parkinson- oder essenziellen Tremor bedeutet dies, dass der Hirnschrittmacher das Zittern nur dann ausschaltet, wenn notwendig – und ohne dabei kollateral die intakten Gehirnfunktionen zu stören. Auf diese Weise sollen die Nebenwirkungen der Tiefen Hirnstimulation wie Dysarthrie oder Ataxie deutlich reduziert werden. Bei anderen Indikationen sollen beim Patienten bestimmte Bewegungen erkannt werden, bei denen eine schonendere Stimulation ausreichend ist, wie beispielsweise beim Gehen. „Man kann es so vergleichen: Die ersten Systeme der Neuromodulation waren Produkte der Montanindustrie. Was wir erreichen wollen, ist eine Bearbeitungspräzision wie die der Uhrmacherei“, sagt Volkmann.
Derzeit findet die Patientenrekrutierung für die ersten klinischen Tests mit der Feedback-gesteuerten, adaptiven Neuromodulation bei Parkinson-Patienten und neuen Elektroden statt. Die Studie soll noch im Jahr 2021 beginnen. Ein weiteres intelligentes Implantat wurde kürzlich CE-zertifiziert. Auf längere Sicht sollen weitere Bewegungsstörungen, etwa als Folge eines Schlaganfalls, mit der adaptiven THS behandelt werden.
Der Text basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung.
Bildquelle: Rene Böhmer, unsplash