Dauerte ein EEG vor knapp 30 Jahren noch fast eine halbe Stunde, sind inzwischen Langzeit-EEG keine Seltenheit mehr. Was sich im Bereich der Neurophysiologie dank KI und Datennetzwerken noch so getan hat, ist Thema des diesjährigen DGKN-Kongresses.
Wichtige Forschungstrends der Neurophysiologie: deutlich präzisere Diagnostik, Echtzeit-Modulation der Gehirnaktivität, Anfallsvorhersage in der Epileptologie und Biomarker für die Therapiesteuerung. Diese Themen werden auch die Teilnehmer des 65. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) beschäftigen. Der Kongress findet vom 10.–12. März statt und wird in diesem Jahr virtuell veranstaltet.
Vor 30 Jahren dauerte ein Elektroenzephalogramm (EEG) 25 Minuten und wurde auf Papier geschrieben. Anschließend hat der Arzt die Muster gesichtet und interpretiert. Heute gibt es 14-Tage-Dauer-EEGs mit 100 Kanälen und 1.000 Datenpunkten pro Sekunde. Am Ende liegen 121 Milliarden Datenpunkte pro PatientIn vor, die selbstverständlich nur noch mithilfe von Computern verarbeitet werden können.
Der Vorteil: Je mehr Daten und je mehr Quellen einbezogen werden, desto höher sind die Genauigkeit und die Aussagekraft einer solchen Big-Data-Analyse.
Die Meteorologie kann trotz des komplexen Systems Wetter mit Daten und Modellen Vorhersagen bis eine Woche im Voraus sehr zuverlässig und geografisch hochaufgelöst treffen. Analog übertragen Unternehmen und Forschergruppen dieses Konzept auf das Gehirn und forschen zum Beispiel an prädiktiven Biomarkern für Epilepsien.
Eine aktuelle Fragestellung lautet: Können wir aus einem (Dauer-) EEG vorhersagen, ob und wann ein epileptischer Anfall eintritt? Diese Anwendung wird derzeit bei PatientInnen mit einem Hirninfarkt oder einem Schädel-Hirn-Trauma untersucht, von denen rund 5 % eine Epilepsie entwickeln. Die EEG-Langzeitableitungen erfolgen zum Beispiel mit Elektroden, die wie ein Hörgerät im Gehörgang liegen oder sogar implantiert werden können. Verarbeitet werden die Daten in neuronalen Netzwerken in Kombination mit maschinellem Lernen. Für die PatientInnen wird es ein enormer Gewinn an Lebensqualität sein, wenn sie in Zukunft einige Minuten vor ihren Anfällen zuverlässig gewarnt werden könnten.
Auch PatientInnen mit akutem subduralem Hämatom erleiden häufig Krampfanfälle. Im Rahmen von Studien wird bei ihnen ein Dauer-EEG abgeleitet. Dafür erhalten sie EEG-Elektroden unter die Kopfhaut implantiert.
Seitliche Schädelaufnahme eines Patienten mit subduralem Hämatom und auf dem Hirn aufgelegter 4-Kontakt-EEG-Elektrode (vier Punkte), mit der Anfälle detektiert werden können; Bildquelle: Prof. Adam Strzelczyk„Auch hier verfolgen wir die Fragestellung: Kann diese Datenanalyse mit künstlicher Intelligenz vorhersagen, ob und wann Anfälle auftreten? Falls ja, könnten wir rechtzeitig intervenieren und damit die Personen vor weiteren Verschlechterungen des Zustands schützen und präventiv behandeln?“, erklärt Prof. Felix Rosenow, Präsident der DGKN. Solche therapeutischen Ansätze basieren in der Regel auf Voruntersuchungen in Tiermodellen.
Die künstliche Intelligenz heißt in diesem Fall Deep Neural Network (DNN). Diyuan Lu und Jochen Triesch vom Frankfurt Institute for Advanced Studies trainieren das DNN mit Daten von Versuchstieren: Sie nutzen dabei das EEG von sechs Mäusen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Epilepsie entwickeln. Damit hat das DNN ausreichend gelernt: Bei der siebten Maus erkennt es selbstständig den Zeitpunkt kurz vor Auftreten des ersten Anfalls, die späte Epileptogenese-Phase. Der nächste Schritt ist es nun, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.
Dieser Trend zu elektrophysiologischen Biomarkern betrifft nicht allein die Vorhersage von Epilepsien. Auch bei neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Morbus Alzheimer oder Morbus Parkinson) entwickelt sich dieser Bereich der Klinischen Neurophysiologie. Beispielsweise erlaubt die schnelle Analyse von großen Datenmengen praktisch in Echtzeit, neuronale Zustände des Gehirns zu analysieren und über elektrische Impulse sofort gegenzusteuern.
Dieses Konzept wird derzeit in Deutschland bei der Tiefen Hirnstimulation bei der Parkinson-Krankheit erforscht. Der DFG-Sonderforschungsbereich RETUNE, eine Kooperation der neurologischen Universitätskliniken in Berlin und Würzburg, möchte noch in diesem Jahr mit der ersten klinischen Studie zur therapeutischen Modulation von Hirnaktivität beginnen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung.
Bildquelle: Joel Filipe, Unsplash