Nicht geimpfte Flüchtlinge stellen deutsche Gesundheitsbehörden vor wachsende Herausforderungen. Während sich Ämter hinter Bürokratie und leeren Kassen verstecken, krempeln Ärzte die Ärmel hoch und impfen – teilweise auf eigene Kosten.
Seit vielen Monaten schon sind Städte und Gemeinden mit täglich eintreffenden Flüchtlingen konfrontiert. Weil vielerorts Unterkünfte für Asylsuchende rar sind, werden Turnhallen beschlagnahmt und kurzerhand zu Massenunterkünften umfunktioniert. Neben den psychischen Belastungen, die solche Unterkünfte bei ihren Bewohnern verursachen, bergen sie auch ein hohes Infektionsrisiko. Das wurde deutlich, als im letzten Herbst in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft die Masern ausbrachen.
Auf Anfrage des gesundheitspolitischen Sprechers der Linksfraktion Harald Weinberg bestätigte die Bundesregierung, dass sich der Ausbruch der Masern anfangs vornehmlich von Asylsuchenden und hier hauptsächlich von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina und Serbien ausging. Erst danach verlagerte sich der Schwerpunkt auf die übrige Berliner Bevölkerung, wo die Verbreitung nach Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales bis heute ungebrochen anhält. Die Bundesregierung äußerte außerdem, es lägen keine belastbaren Daten zum Impfstatus der Flüchtlinge vor. Das ist vor allem bei den Asylsuchenden der Fall, die ohne Papiere nach Deutschland kommen. „Grundsätzlich haben Asylsuchende einen Rechtsanspruch auf Impfungen“, schreibt Weinberg auf seiner Webseite – so weit die Theorie. „Ganz offenbar werden aber viele nicht geimpft, wenn sie nach Deutschland kommen.“ Und das kann verheerende Folgen haben – sowohl für die Flüchtlinge, als auch für die restliche Bevölkerung. Denn wenn hunderte Menschen mit mangelndem Impfschutz auf engem Raum zusammenleben, haben vor allem die hochinfektiösen Masern-Viren leichtes Spiel.
Seit anderthalb Jahren warnt das Robert Koch-Institut (RKI) auf seiner Webseite auch vor einer Polio-Einschleppung aus Syrien. Dort seien die Impfquoten gegen den Erreger der Kinderlähmung von 91 % im Jahr 2010 aufgrund der Bürgerkriegssituation auf 68 % im Jahr 2012 gesunken. UNICEF geht von noch niedrigeren Impfquoten aus. Alle nach 2010 in Syrien geborenen Kinder stellten daher eine besondere Risikogruppe dar. Denn vor allem sie könnten Polioviren nach Deutschland einschleppen. Daher empfiehlt das RKI „die Polio-Impfung von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus Syrien, insbesondere von nach 2010 geborenen Kindern, vordringlich“. Bereits infizierte Kinder sollten per Stuhluntersuchung identifiziert und isoliert werden. Auch dem Personal wird, unabhängig vom Alter, eine Auffrischimpfung empfohlen, wenn die letzte Impfung der Grundimmunisierung bzw. die letzte Auffrischimpfung länger als 10 Jahre zurückliegt.
Die medizinische Betreuung von Flüchtlingen scheint die deutschen Behörden vor schier unüberwindbare Herausforderungen zu stellen. Theoretisch bekommt jeder Flüchtling in Berlin einen Krankenschein, mit dem er – wieder theoretisch - zu jedem Hausarzt gehen kann. „Diesen Krankenschein bekommen die Flüchtlinge aber erst, wenn sie beim Landesamt für Gesundheit und Soziales vorsprechen“, erklärt die Sportmedizinerin Pia Skarabis-Querfeld. Viele der Flüchtlinge seien jedoch von der langen Flucht erschöpft, traumatisiert und krank, sodass sie aus rein logistischen Gründen nicht an einen Krankenschein gelangen. Zudem seien viele ohnehin überfüllte Arztpraxen mit den Flüchtlingen überfordert und schickten sie einfach weg, berichtete Skarabis-Querfeld gegenüber dem „Stern“.
Immer häufiger krempeln daher engagierte Ärzte selbst die Ärmel hoch und impfen – teilweise sogar auf eigene Kosten – so auch Skarabis-Querfeld und ihre Kollegen kurz nach Weihnachten in Berlin. Natürlich nicht, ohne vorher mit den zuständigen Behörden in Kontakt zu treten. „Das Gesundheitsamt fand die Idee toll, erklärte aber, dass keine Gelder da seien, um vorbeugend zu impfen. Geimpft würde nur, wenn bereits jemand erkrankt sei. Vom Landesamt für Gesundheit hieß es dagegen, impfen in der Halle sei nicht nötig. Die Flüchtlinge könnten zum Hausarzt gehen“, so Skarabis-Querfeld. Doch das sei praktisch unmöglich, denn welche Hausarztpraxis impfe schon 200 Flüchtlinge auf einmal? Zumal sich die Praxis nach Annahme des Krankenscheins verpflichte, die Flüchtlinge auch den Rest des Quartals gesundheitlich zu versorgen.
Nachdem sie sich mit dem RKI beraten hatte, baute die Sportmedizinerin mit ihren Kollegen Impfstationen im Flur der Turnhalle auf. Kinder, Frauen und Männer wurden separat geimpft. „Denn in manchen Ländern ist eine unbedeckte Schulter etwas Intimes“, erklärt sie. Die Bilanz: Alle Flüchtlinge haben bei den Impfungen gegen Masern und andere Erkrankungen mitgemacht. Um dem mangelnden Impfstatus der Flüchtlinge Herr zu werden, gab das Landesamt für Gesundheit bereits im Winter bekannt, eine zentrale Impfstelle für Asylsuchende in Berlin einzurichten. Im Sommer, so hieß es, solle das Projekt startklar sein.
Auf Nachfrage von DocCheck hieß es von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: „Im Land Berlin laufen derzeit die Vorbereitungen für die Errichtung einer zentralen Impfstelle für Flüchtlinge. Es ist geplant, die Aufgabe der Durchführung der Impfungen, inklusive der Impfstoffbeschaffung, der Dokumentation der Impfungen, einschließlich der Ausstellung des Impfbuches etc. in einem öffentlichen Verfahren an Dritte zu vergeben.“ Da eine europaweite Ausschreibung zeitintensiv sei, prüfe das Landesamt derzeit im Vorfeld der europaweiten Ausschreibung Angebote von möglichen Auftragnehmern, die die Impfstelle in der Zwischenzeit betreiben könnten. Geplant seien die Standardimpfungen (MMR, MMRV, und bei Säuglingen die Sechsfachimpfung). Grundsätzlich sei vorgesehen, dass das Landesamt für Gesundheit und Soziales komplett ausgestattete Räume für den Betrieb der Impfstelle, die Sprachmittler sowie die Aufklärungsmaterialien in den erforderlichen Sprachen zur Verfügung stelle. Nach einer praxisnahen, raschen Lösung – vor allem für alle Flüchtlinge in Deutschland – hört sich das allerdings nicht an.