Im März dieses Jahres wurde die „Pille danach“ in die Rezeptfreiheit verabschiedet. Während Familienverbände und Politiker der Änderung Beifall spendeten, blickten die Berufsverbände der Frauenärzte besorgt auf die neue Regelung. Wie sieht die 100-Tage-Bilanz aus?
Kurz nach dem Startschuss für den rezeptfreien Vertrieb der Pille danach schienen sich die schlimmsten Befürchtungen der Kritiker rasch zu bewahrheiten. Trotz strengen Werbeverbots schnellte die Zahl der Packungsabgaben bereits eine Woche nach dem OTC-Switch im Vergleich zur Vorwoche um 42 % nach oben. In absoluten Zahlen entsprach das einem Sprung von 9.500 Abgaben in der letzten Woche alter Ordnung auf 13.500 verkaufte Packungen in der Debütwoche. Während sich das Verordnungsvolumen im März des vergangenen Jahres auf 41.000 Pillen belief, gingen bis zum Ende des März 2015 mehr als 50.000 Präparate zur Notfallverhütung über die Ladentheke, davon schon knapp die Hälfte ohne ärztliche Verordnung. Im Folgemonat April führte die Neuregelung fast erwartungsgemäß zu einem weiteren Absatzanstieg: Weniger als 10 % der 55.000 Packungen wurden noch im Austausch gegen ein Kassenrezept an die Frau gebracht, etwa doppelt so viele unter Vorlage eines Privatrezepts, der Löwenanteil von fast 80 % entfiel jedoch auf die neugeschaffene Selbstmedikation. Im Vergleich zum April letzten Jahres verzeichneten die Statistikdienstleister somit ein Plus von 15.000 Abgaben im April 2015. Unter Berücksichtigung des Premierenmonats März ergibt sich mittlerweile ein weit weniger drastischer Anstieg um ca. 30 % von 81.000 Packungsabgaben im Vorjahreszeitraum auf 105.000 Pillen in den Monaten März und April des laufenden Jahres. Inzwischen haben sich die Verordnungszahlen auf einem Niveau von 13.000 bis 14.000 Packungsabgaben pro Woche stabilisiert.
Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass die Rezeptfreiheit der Pille danach bisher zu regional sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf den Verkauf geführt hat. Während der Absatzanstieg von Februar auf April in den südlichen Bundesländern Rheinland-Pfalz, Saarland, Baden-Württemberg und Bayern eher schwach ausfällt, imponieren im gleichen Zeitraum insbesondere in den neuen Bundesländern teils massive Zunahmen bei den Verkaufszahlen. Angeführt wird die Tabelle vom Freistaat Thüringen, in dem sich die Abgabe der Pille danach mehr als verdoppelt hat. Für die unmittelbar dahinter rangierende Mark Brandenburg vermelden die Statistikdienstleister einen Zuwachs von bis zu 85 %. Auf den Plätzen dahinter folgen Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen sowie die Stadtstaaten Hamburg und Berlin, in denen der Verkauf ebenfalls stark angezogen hat. Unter Hinzunahme der tatsächlichen Pro-Kopf-Abgaben erscheinen die gebietsmäßigen Differenzen jedoch in einem anderen Licht. In den wachstumsschwachen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg bestand im April 2015 ebenso wie im Westen der Republik ein starker Absatz der Notfallkontrazeptiva pro Einwohner. Weit vorne liegen in dieser Statistik auch die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin. Unterdessen verweilen die bevölkerungsbezogenen Absatzzahlen in den neuen Bundesländern trotz des immensen Zuwachses weiterhin deutlich unter dem deutschen Durchschnitt. Demnach scheint ein beträchtlicher Teil des bundesweiten Anstiegs auf den „Aufholbedarf“ im Osten des Landes zurückzuführen zu sein.
Ein Blick in die Vergangenheit verrät, dass der Markt für Präparate zur hormonellen Notfallkontrazeption in den letzten Jahren ohnehin nicht von Stillstand geprägt war. Erklärte sich im Jahr 2004 mit 39 % nur weniger als die Hälfte aller gynäkologischen Praxen dazu bereit, die Pille danach zu verordnen, gab es im Jahr 2013 mit einem Anteil von 99 % verschreibungswilliger Frauenheilkundler fast keine Verweigerer mehr. Dementsprechend verdoppelte sich die Abgabe bis 2013 von 236.000 Packungen auf 488.000 Packungen, zu gleichen Portionen verteilt auf den herkömmlichen Wirkstoff Levonorgestrel und das erst 2010 zugelassene Ulipristalacetat. Umgekehrt stieg auch der Anteil der Nutzerinnen im gleichen Zeitraum von durchschnittlich 11 Patientinnen auf 30 Patientinnen pro Praxis an, denen die Pille danach verordnet wurde. Auf eine Nutzerin kam zwischen 2004 und 2013 jedoch konstant ca. 1 Verordnung pro Jahr, sodass die Pille danach trotz der rasanten Entwicklung über die Jahre hinweg der für Notfälle vorbehaltene Plan B blieb. Eine steigende Nachfrage für Notfallkontrazeptiva ist also kein gänzlich neuer Trend. Inwieweit die neugeschaffene Selbstmedikation allerdings das Nutzerverhalten verändert, lässt sich nach drei Monaten kaum beurteilen.
Die OTC-Gegner befassten sich indes vor der Neuregelung weniger mit wachsenden Absatzmärkten als vielmehr mit der Sorge vor einer unzureichenden Beratungsleistung in den Apotheken. Es handle sich bei der Pille danach nicht um „eine harmlose Halsschmerztablette, sondern um ein starkes Medikament, das in den Hormonhaushalt der Frauen eingreift“, hatte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml von der CSU gewarnt. „Deshalb ist eine ärztliche Untersuchung und Beratung der Frauen zu ihrem eigenen Schutz sehr sinnvoll“, so Huml weiter. Rückendeckung erhielt sie vor allem von den gynäkologischen Fachgesellschaften: Eine medizinisch kompetente, sorgfältige und vertrauliche Beratung zur Pille danach sei in den Apotheken problematisch und in den meisten Fällen unmöglich, hieß es in einer Stellungnahme. „Wir Apotheker werden dies leisten, denn kompetente und diskrete Beratung gehört zu unseren alltäglichen Aufgaben“, hatte Dr. Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer (BAK), zur Einführung der rezeptfreien Pille danach versprochen. Zu diesem Zweck erarbeitete die BAK in Abstimmung mit dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) und den Frauenärzten einen detaillierten Handlungsleitfaden mit Hilfestellungen für die Beratung in der Apotheke. Zentrale Anweisungen betrafen die persönliche Abgabe an betroffene Frauen, die Vermeidung regelhafter Vorratskäufe sowie die in Einzelfällen nötige Empfehlung eines Arztbesuchs, allen voran bei Mädchen unter 14 Jahren. Bereits im Mai zog Kammerpräsident Kiefer stolz Bilanz: „Zwei Monate danach hat sich die Aufregung gelegt. Denn es hat sich wieder einmal gezeigt: Apotheker beraten sachkundig und diskret, auch in sensiblen Situationen.“
Während die Beratungsleistung der Apotheker von Beginn an gesichert zu sein schien, standen der pharmazeutischen Branche ganz andere Hindernisse im Weg. Nachdem das BMG sich Anfang Januar der Entscheidung der Europäischen Kommission beugte und die rezeptfreie Pille danach ankündigte, dauerte es kaum zwei Monate bis zur vollständigen Umsetzung dieses Vorhabens. In der Kürze der Zeit gelang es nicht allen drei Herstellern, die insgesamt vier Präparate als OTC-Medikamente deklarieren zu lassen und kenntlich zu machen. Einzig das von der EU-Kommission europaweit von der Rezeptpflicht befreite Ellaone (Ulipristalacetat) vom Hersteller HRA Pharma war zum OTC-Switch als nunmehr apothekenpflichtiges Medikament auf der Verpackung ausgewiesen. Erst einen Monat später erreichten die Levonorgestrel-haltigen Präparate Postinor (Gideon Richter), Unofem (Hexal) und Pidana (ebenfalls HRA Pharma) den neuen Markt – ein lukrativer Monat, in dem das teuerste der vier Notfallkontrazeptiva das Monopol für die Pille danach hielt. Zwar verringerte sich der Absatz von Pidana im vergangenen halben Jahr aufgrund der Startschwierigkeiten um mehr als ein Drittel, die Verkaufszahlen von Ellaone schossen allerdings im gleichen Zeitraum deutlich in die Höhe.