Die Lebenserwartung steigt – und damit auch die Zahl an multimorbiden Patienten. Um erfolgreich zu intervenieren, sollten Ärzte und Apotheker Hand in Hand arbeiten. Was in vielen Ländern funktioniert, ist noch nicht bis zum Bundesgesundheitsministerium durchgedrungen.
Der Studie zweiter Teil: Nach der Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study aus 2010 haben Wissenschaftler jetzt eine Aktualisierung vorgestellt. Als Grundlage ihres Updates werteten sie 35.620 Quellen über Krankheiten und Verletzungen aus; kaum ein Land blieb unberücksichtigt. Ihnen gelingt es erneut, weltweite Trends aufzuzeigen.
Wie Theo Vos jetzt zusammen mit Kollegen berichtet, steigt die Lebenserwartung weiter an. Zeitgleich gewinnen chronische Leiden an Bedeutung. Im Report dominieren Erkrankungen, die bei uns als vergleichsweise wenig problematisch gelten: unbehandelte Karies (2,4 Milliarden Menschen), Spannungskopfschmerzen (1,6 Milliarden), Eisenmangelanämie (1,2 Milliarden) oder Schwerhörigkeit (1,18 Milliarden). Um den tatsächlichen Leidensdruck anzugeben, berücksichtigen Epidemiologen spezifische Faktoren, abhängig vom Krankheitsbild. Nach YLD („Years Lived with Disability“) gelistet, stehen Lumbalgien an erster Stelle, gefolgt von Major-Depressionen und Eisenmangelanämien. Große Veränderungen ergeben sich bei Diabetes, hier ist überwiegend Typ-2-Diabetes gemeint: Von 1990 bis 2013 stieg der Anteil an Patienten um 136 Prozent. In mehreren Ländern Europas und des nahen Ostens hat die Stoffwechselerkrankung bereits Platz eins erreicht. Ähnlich drastisch schnellten Fallzahlen bei medikamenteninduziertem Kopfschmerz (plus 120 Prozent) oder Morbus Alzheimer (plus 92 Prozent) nach oben.
Kein Wunder, dass Multimorbidität weltweit zum großen Thema wird. Dem Report zufolge hatten 31,7 Prozent aller Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter fünf oder mehr Erkrankungen. Soweit es vor Ort ein funktionsfähiges Gesundheitssystem gibt, kommen Probleme durch viele Arzneistoffe in Dauertherapie mit hinzu. Mit Präventionsprogrammen gelingt es gerade bei Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, erfolgreich zu intervenieren. Dass Beratungsgespräche durch Pharmazeuten durchaus Sinn machen, lässt sich sogar wissenschaftlich belegen. Im Rahmen des Präventionsprogramms GLICEMIA haben 40 Apotheken rund 1.000 Teilnehmer ein Jahr lang betreut. Das Angebot bestand aus insgesamt drei persönlichen Beratungsgesprächen und fünf Gruppenschulungen. Zusammen mit Betroffenen haben Kollegen Gesundheitsziele definiert und Wissen für eine langfristige Lebensstiländerung vermittelt. In der Vergleichsgruppe gab es lediglich schriftliche Anweisungen. Nach einem Jahr hatte sich das Diabetesrisiko bei betreuten Teilnehmern im Vergleich zur Kontrollgruppe hochsignifikant verringert. Sie bewegten sich mehr und verloren an Übergewicht. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sieht Präventionsprogramme jedoch im ärztlichen Aufgabenbereich.
Kein Einzelfall: Auch der neue Medikationsplan soll laut E-Health-Gesetz fest in medizinischer Hand bleiben. Apotheker ergänzen allenfalls Daten – und erhalten keine Honorierung. Dagegen liefen Standesvertreter Sturm. Kurz darauf twitterte Gröhes Haus: „Sobald die Telematik-Infrastruktur aufgebaut ist, können Apotheker in Medikationsplan eintragen (...) und Vergütungsvereinbarungen dafür treffen.“ Details sind momentan aber nicht zu erfahren. Weiter ging es beim Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit: Jens Spahn (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher der Union, bewertete Gröhes Gesetzesentwurf zwar als „gute Vorlage“. Dennoch sieht er Nachbesserungsbedarf. „Wir müssen viel schneller zum elektronischen Arztbrief und zum elektronischen Rezept kommen“, so Spahn. GKVen gehen längst eigene Wege. Im Rahmen eines Modellprojekts bietet die Techniker Krankenkasse (TK) ihren Versicherten an, die Medikation pharmazeutisch überprüfen zu lassen. Am Test nehmen 200 Apotheken teil, deren Leistung auch honoriert wird. Tim Steimle, Fachbereichsleiter Arzneimittel der TK, bewertete erste Ergebnisse positiv. Grund für Optimismus besteht aber nicht.
Wie jetzt in Berlin bekannt wurde, hat der Deutsche Apothekerverband (DAV) einem schwer nachvollziehbaren Kompromiss zugestimmt. Pharmazeuten werden für ihre Arbeit keinen Zugriff auf ärztliche Diagnosedaten erhalten. Das Modul Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) wird nur aus Patienten- und Arzneimitteldaten bestehen. Ob sich damit vernünftige Medikationsanalysen durchführen lassen, darf bezweifelt werden. Tatsache ist, dass der DAV gegenüber der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) beziehungsweise der Bundesärztekammer (BÄK) in die Knie gegangen ist. Eine mögliche Verhandlungspartnerschaft mit dem GKV-Spitzenverband – letztlich zum Wohle der Patienten – kam für DAV-Vertreter nicht infrage. Da wirkt ein gemeinsam von der ABDA, der BAK, dem DAV sowie der AMK veröffentlichtes Positionspapier wie ein Tropfen auf den heißen Stein.