Die Haare sind lang, der Lockdown nervt. Und ich weiß, die Päckchen, die wir tragen, sind sehr unterschiedlich. Aber ich finde, wir riskieren mit erneuten Lockerungen einiges.
Ich bin in einer pandemieprivilegierten Situation. Ich habe einen Beruf, der mehr als kompatibel mit der gesundheitlichen Lage ist, meine Frau ebenso. Meine Kinder sind weitestgehend selbstständig in ihrer schulischen Ausbildung (viel lassen sie sich da sowieso nicht reinreden), meiner Praxis geht es ausreichend gut, auch wenn die letzten drei Quartale weit unter den Zahlen des Vorjahres lagen. Meine Haare sind mittlerweile nicht mehr ansehnlich, ich vermisse Kino- und Konzertbesuche und ein leckeres Restaurantessen mit oder ohne Freunde.
Vor allem fehlen mir Bummeleien in der Innenstadt, das sinnlose Schlendern durch Geschäfte und das Zeitvergessen in Buchhandlungen und Bibliotheken. Wir waren schon immer keine Partyfamilie, die nächsten Verwandten wohnen Hunderte von Kilometern entfernt, die Großeltern sind nicht mehr da oder wurden bisher auch nur zweimal im Jahr besucht. Die Katze sorgt für die Streicheleinheiten, der Hund erlaubt das Hausverlassen auch nach 20 Uhr.
Ich sehe auch die Probleme der derzeitigen Strategie der Pandemiebewältigung in Deutschland. Ich verstehe, dass es es vielen Geschäften, Restaurants und Dienstleistern sehr schlecht geht, ich sehe in der Praxis die Zunahme an psychologischen Problemen für Kinder und Jugendliche. Ich sehe, dass es Familien schlechter geht, denen es „vorher“ schon schlecht ging und dass die Familien gut zurechtkommen, die schon immer mit allem gut zurechtkamen. Meine fMFA haben Kinder, müssen Homeschooling auf die Reihe bekommen, werden intrafamiliär durchgeschüttelt, aber als Arbeitgeber haben wir ihnen allen, zumindest durch vorübergehende Kurzarbeit, attraktiv-flexible Arbeitszeiten und die Anstellung gesichert.
Ich würde vielleicht anders argumentieren, wenn meine Situation eine andere wäre. Das würde jeder machen, außer vielleicht die Politiker. Aber nein, vielleicht auch diese nicht. Woher weiß ich, dass die Entscheidungsträger nicht so entscheiden, wie sie entscheiden, weil ihnen nun doch die Haare zu lang werden, sie gerne mal wieder shoppen gehen wollen oder Blumen einkaufen? Das erinnert mich an den Kommunalpolitiker hier im Nachbarlandkreis: Lange Zeit wurden die Hilferufe der Eltern ignoriert, dass sie keinen Kinderarzt für ihre Neugeborenen finden. Die Bedarfsplanung wurde darauf gestützt, dass angeblich zu viele Kinderärzte niedergelassen seien, sodass keine neue Praxis eröffnet werden kann. Trotzdem standen die Eltern Schlange. Dann kam der Nachwuchs für den Kommunalpolitiker, er erlebte die Realität in der eigenen Familie, der Vorsitzende der KV wurde bemüht und – zack – hatten die Kinderärzte eine Verpflichtung zur Regulierung auf dem Tisch, wohlgemerkt ohne, dass sich etwas an der eigentlichen Misere, nämlich dem Niederlassungsstopp, änderte. Die Umgebungsstrecke wird schneller gebaut, wenn der Baudezernent in der überbeanspruchten Durchgangsstraße des Fachwerkhäuserortes wohnt.
Ich bin also voreingenommen, da wenig betroffen von den Auswirkungen der derzeitigen oder vergangenen Entscheidungen zur Coronapandemie-Bewältigung. Ich bin kein Statistiker, kein Epidemiologe, kein Virologe. Aber alle drei Berufsgruppen bringen genug Beispiele in den letzten Monaten hervor mit Menschen, die richtig oder falsch lagen. Das liegt in der Natur der Sache. Auch der Blick in andere Länder mag täuschen: Jede Bevölkerungsstruktur ist anders, jedes Gesundheitssystem, jede politische Führung. Mal werden die diktatorisch geführten Länder als Positivbeispiel geführt, mal die aufgeklärten weiblich geführten. In the long run vermute ich, dass die meisten Länder prozentual bei den gleichen Coronaverlusten enden werden, ausgenommen vielleicht Sonderfälle wie Neuseeland (klein, abschottbar, ja, auch die Mentalität der Menschen spielt hier eine Rolle) und USA (weil zu spät reagiert).
Die gefühlte Situation ist für die meisten so: Die Infektionszahlen gingen zuletzt zurück, aktuell stagnieren sie. Man kennt wieder niemanden, der erkrankt oder gar an COVID verstorben ist. Die Haare sind zu lang, die Kinder nerven, die schulischen Leistungen brechen seit Monaten ein, die Wirtschaft liegt darnieder, alle wollen mal wieder einkaufen gehen. Kurzum: Es reicht, alle sind genervt, resigniert, ermüdet. Die Politik entwirft Ausstiegsszenarien aus dem Lockdown, Stufenpläne des Abbaus werden entwickelt, Hoffnung auf Urlaub und auf offene Geschäfte wird geschürt.
Aber was haben wir bisher erleben dürfen? Jede Lockerung brachte einen Freifahrtschein für die Unbelehrbaren, jede Berufsgruppe wollte nun auch endlich „dran“ sein. Als die Schulen im Herbst wieder aufmachten, stiegen hier die Infektionszahlen an und damit auch das Ansteckungsrisiko in den Familien. Aber weiterhin bemühten die Kultusminister die Bildungsfairness über die Erkrankungswahrscheinlichkeit, auch mein Berufsverband sieht die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen mehr gefährdet als das organische Befinden. In diesem Fall müssen wir nicht in andere Länder schielen, das Experiment Schulöffnungen hat in der zweiten Welle nicht funktioniert und nun soll es plötzlich klappen?
Jede Beendigung des Lockdowns ist ein Experiment, das bisher jedes Mal gescheitert ist. Und jedes Mal ist die Wiedereinführung eines Lockdowns (den wir nie hatten) noch schwerer zu argumentieren, zu motivieren, durchzusetzen. Das führt zu weiterer Frustration, zu mehr Kritik, letztendlich aber zu mehr Laisser-faire im Umgang mit den Maßnahmen. Wer nimmt denn Abstandhalten und Masketragen in der großen Population noch ernst, wenn wir mal aus unserer braven Internet-Twitter-Blog-Community-Bubble hinausschauen und einen Blick auf frühlingsbeschwingte Fußgängerzonen oder jeden beliebigen Park in jeder beliebigen Großstadt am letzten Wochenende und den folgenden werfen? Vom Unverständnis gegenüber der Schieflage von ausgesetzten Maßnahmen gegenüber Profisportlern mal ganz abgesehen.
Alle Maßnahmen der letzten „Lockdowns“ waren ein Ausprobieren, alle Hoffnungen wurden in die Impfungen gesetzt – ich plädiere für den Versuch des NoCovid oder ZeroCovid, also die Verlängerung eines noch strengeren Lockdowns, bis zum Erreichen einer Inzidenz von unter 10 pro 100.000 Einwohner. Höhere Inzidenzen erlauben strengere Lockdownmaßnahmen, ein Stufenschema, das vorher festgelegt wird und bundesweit einzuhalten ist. Dies erleichtert die Planung und Hoffnung des Einzelnen. Inzidenzen müssen zudem durch Stichproben oder flächendeckende Selbsttestungen errechnet werden, nicht wie bisher, wenn Tests nur bei Verdacht durchgeführt werden.
Mögliche Maßnahmen wären:
Die Wirtschaft liegt darnieder, das soziale Leben ist auf wenige Kontakte reduziert, vor allem Kinder mit einem hohen Bedürfnis nach Nähe leiden. Jedoch: Vertrauen in das Wiedererstarken der Ökonomie, gerade in der EU, und die Resilienz des Menschen, eben gerade bei Kindern, sollte uns auch nach einem Jahr Pandemie optimistisch in die Zukunft blicken lassen. Das Risiko noch höherer Sterberaten und Long-Covid-Inzidenzen ist die Lockerungen nicht wert, die bei marginalen Besserungen reflexartig herbeigerufen werden. Lieber Long-Hair statt Long-Covid.
Bildquelle: Emir Kaan Okutan, unsplash