Wie wirken Antidepressiva, und warum so langsam? Forscher erzählen jetzt ein komplexes Epos über Medikamente, Cholesterin und Neuroplastizität. Stehen Serotonin und Kollegen nur an der Seitenlinie?
In Sachen Antidepressiva-Therapie ist die neuropsychiatrische Standarderzählung seit Jahrzehnten die, dass die meisten derartigen Präparate günstig in monoaminerge Signalwege eingreifen, also in die Wirksamkeitskaskaden von Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer beispielsweise erhöhen die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt, was irgendwie antidepressiv wirken soll, schließlich ist Serotonin das Glückshormon. Monoaminoxidasehemmer bremsen den Abbau von unter anderem Noradrenalin und führen so zu höherer synaptischer Aktivität dieses Transmitters, den viele diffus mit „mehr Energie“ assoziieren. Auch bei trizyklischen Antidepressiva lassen sich monoaminerge Effekte nachweisen.
Bei der Monoamin-Hypothese der Depression stellen sich einige Fragen, etwa jene, warum genau Antidepressiva-Effekte erst nach Tagen oder Wochen einsetzen, obwohl die monoaminerge Wirkung an den unterschiedlichen Rezeptoren keineswegs verzögert auftritt. Dann gibt es auch noch schneller wirksame Antidepressiva wie Ketamin und seine Metabolite, bei denen eher das Glutamat-Signalling, konkret eine NMDA-Rezeptor-Hemmung, als Wirkmechanismus angenommen wird. Doch auch das ist nicht unstrittig, es gibt Untersuchungen, die eher dagegensprechen. Das alles ist zumindest ein bisschen unübersichtlich.
Umso spannender ist vor diesem Hintergrund, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Plinio Casarotto und Eero Castrén vom Neuroscience Center der Universität Helsinki in Kooperation mit Neurowissenschaftlern um Claus Normann von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg jetzt in der Fachzeitschrift Cell berichten. Sie sind der Auffassung, dass sie einen neuen, antidepressiven Wirkmechanismus aufgeklärt haben, bei dem es nicht um einzelne Neurotransmitter geht und der deswegen für Antidepressiva unterschiedlichster Klassen gilt. Konkret geht es um den BDNF-Signalweg. BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) ist ein zentrales Molekül im Zusammenhang mit Lernvorgängen im Gehirn und wird dort auch schon lange erforscht. Es fördert über den TRKB-Rezeptor in Nervenzellen die synaptische Plastizität.
Dass BDNF bzw. das TRKB-Signalling bei der antidepressiven Behandlung eine Rolle spielen könnten, ist eine Hypothese, die in den letzten Jahren zunehmend Anhänger gefunden hat. Sie ist unter anderem deswegen attraktiv, weil sie erklären kann, warum Antidepressiva nicht sofort wirken. Denn Neuroplastizität ist – anders als beispielsweise die Serotonin-Wiederaufnahmehemmung – ein längerfristiger Prozess. Dass Antidepressiva auf das BDNF-Signalling wirken, ist an sich nicht neu. Bisher waren Experten aber meist davon ausgegangen, dass es sich um indirekte Effekte handele. Denn die molekularen Kaskaden im Gehirn sind eng miteinander verzahnt.
Die Ergebnisse aus Helsinki und Freiburg sprechen jetzt für direkte Effekte der Antidepressiva auf TRKB-Rezeptor und damit auf das BDNF-Signalling. Konkret scheinen TRKB-Dimere in den Nervenzellmembranen eine Art Rezeptortasche zu bilden, an die diverse Antidepressiva direkt binden. Getestet haben die Wissenschaftler das unter anderem für Fluoxetin, Imipramin, Venlafaxin, Moclobemid und für verschiedene Ketamin-Derivaten. Mit anderen Worten: Antidepressiva mit scheinbar ganz unterschiedlichen Wirkmechanismen machen auf TRKB-/BDNF-Ebene jeweils genau das gleiche.
Die Bindung der Antidepressiva an den Rezeptor hat unterschiedliche Effekte, unter anderem wird die TRKB-Expression auf den Membranen gefördert und die BDNF-Wirkung so verstärkt. Das wiederum führt dazu, dass die synaptische Plastizität steigt: Die Neigung, neue Synapsen und Nervenfasern zu bilden, nimmt zu und zwar bis auf Level, die sonst eher im Jugendalter erreicht werden. „Das Gehirn kann durch die Stimulation des BDNF neue, positive Informationen aus der Umwelt oder bei Psychotherapien wieder besser aufnehmen und erholt sich aus seinem depressiven Zustand“, sagt Normann.
Auf die Spur gekommen sind die Wissenschaftler dem Mechanismus durch eine ganze Reihe an Experimenten. Die Veröffentlichung hat insgesamt 35 Seiten. So haben sie Mutationen in den TRKB-Rezeptor eingefügt, die dazu führten, dass die Bindung der Antidepressiva in vitro beeinträchtigt wurde. Und im Tierexperiment konnten sie zeigen, dass bei Mausmodellen mit derartigen Mutationen die Antidepressiva-Wirkung in vivo aufgehoben ist.
Die Wissenschaftler sind außerdem darauf gestoßen, dass ein normaler Cholesterin-Spiegel für eine optimale Wirkung der Antidepressiva an der TRKB-Bindungsstelle wichtig ist: Zu hohe, vor allem aber auch zu niedrige, Cholesterinspiegel verformen den Rezeptor, sodass die antidepressiven Wirkstoffe schlechter andocken können. Die klinische Bedeutung dieser Beobachtung ist noch offen: „Unsere Beobachtungen implizieren, dass hohe Statindosierungen mit der Wirkung von Antidepressiva interferieren könnten“, schreiben die Autoren.
Von einem Zusammenhang zwischen Statin-Therapie und Depression ist bisher aber nichts bekannt und es nicht so, dass dieses Thema noch nie untersucht worden wäre. Es bleiben also Fragen offen. Wie immer bei guter Forschung werden zahlreiche Wege für weitere Forschungsprojekte gebahnt. Und vielleicht kommt das TRKB-Signalling ja auch als Ansatzpunkt für neue, antidepressive Medikamente in Frage.
Bildquelle: Sharon McCutcheon, unsplash