Lockerungen solle man nicht nur an Inzidenzwerte koppeln, sagen Berliner Amtsärzte. Sie üben starke Kritik an der No-Covid-Strategie und schlagen einen anderen Ansatz vor.
Alle 12 Berliner Amtsärzte haben sich in einer Stellungnahme dafür ausgesprochen, Lockerungen nicht von generellen Inzidenzwerten abhängig zu machen. Das Schreiben liegt dem Tagesspiegel vor.
Eindämmungsmaßnahmen nur an Inzidenzwerte zu koppeln, sei nicht zielführend, zitiert der Tagesspiegel die Amtsärzte. Denn Inzidenzen bildeten nicht das tatsächliche Infektionsgeschehen in der Bevölkerung ab, da der Wert sowohl von Testkapazitäten als auch der Testbereitschaft der Menschen abhänge. Dadurch komme es zu Schwankungen, die nicht die tatsächliche infektiologische Lage widerspiegelten. Damit üben die Berliner Ärzte starke Kritik an der No-Covid-Strategie, ein Ansatz, der unter anderem von Virologin Melanie Brinkmann, vertreten wird. Mit No Covid soll der Inzidienzwert durch Lockdown, Tests und Masken auf unter zehn gedrückt werden. Wissenschaftler erhoffen sich hiervon, das Infektionsgeschehen dauerhaft in den Griff zu bekommen.
Die Berliner Ärzte hingegen halten dem Medienbericht zufolge ein Frühwarnsystem, das sich an Altersgruppen orientiert, für sinnvoller. „Der Vorschlag der Amtsärzte, wenn ich ihn richtig verstehe, würde voraussetzen, dass man weiß, wer sich gerade wo infiziert“, gibt ein Tagesspiegel-Redakteur auf Twitter zu bedenken. Die Nachverfolgung klappe aber seit Monaten nicht mehr. Ihn mache das ratlos.
Auch andere Twitter-User kritisieren die Forderung der Amtsärzte. „Das ist eine ganz schlechte Neuigkeit, dass alle Berliner Amtsärzte exponentielles Wachstum nicht verstanden haben”, schreibt eine Ärztin.
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Die Virologin Isabella Eckerle stellt den Nutzen eines Frühwarnsystem zum jetzigen Zeitpunkt in Frage: „Wovor soll das aktuell warnen?“, fragt sie. Man befinde sich seit einem Jahr in der Pandemie und habe SARS-CoV-2 nicht unter Kontrolle bringen können. Außerdem erwähnt sie, dass steigende Immunität in der Bevölkerung bei gleichzeitiger hoher Viruszirkulation die Entstehung weiterer Varianten fördere. Ein Punkt, der derzeit nicht ausreichend beachtet werde.
Die Stellungnahme der Berliner Ärzte findet aber auch Zuspruch. „Endlich eine klare Aussage von dort, wo es passiert. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist eins der wichtigen Instrumente, um die Ausbreitung zu kontrollieren“, twittert etwa Medizinstatistiker Gerd Antes, und er ergänzt, dass „Inzidenzwert“ eine Mittelwertbildung über zwei Dimensionen, nämlich Zeit und Risikogruppen sei, und damit stark fehlerbehaftet. Auch vom Epidemiologen Klaus Stöhr kommt Zustimmung. Die Forderungen läsen sich wie „eine gute Vorbereitung auf einen Stufenplan“.
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