MEINUNG | Demonstranten und Impfverweigerer gibt es in der ganzen Bevölkerung – auch im medizinischen Personal. Das macht die Pandemie noch komplizierter, als sie sowieso schon ist.
Die Coronapandemie hat uns fest im Griff und es gibt kaum jemanden, der ihrer nicht müde ist. Wir alle sind genervt von Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Hygienevorschriften. Wir alle möchten unser ganz normales Leben zurück. Komplett und am besten sofort. Doch das geht leider nicht. Und wenn man dann eine Nachricht wie folgende liest, kommt neben dem allgemeinen Frust noch eine Portion Unverständnis hinzu.
Zwei Querdenker-Demonstrationen im November 2020 haben offenbar dazu beigetragen, dass sich das Coronavirus in Deutschland stark verbreitet hat. Eine aktuelle Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsordnung (ZEW Mannheim) und der Humboldt-Universität Berlin analysierte die Auswirkung dieser beiden Demos auf die Sieben-Tage-Inzidenz bis Ende Dezember.
Es wurde das Infektionsgeschehen in den Landkreisen untersucht, aus denen zehntausende Demonstranten zu den Kundgebungen am 7. November in Leipzig und am 18. November 2020 in Berlin anreisten. Dafür wurden Informationen aus einem Netzwerk von Busunternehmen, die sich auf die Beförderung der Demonstranten spezialisiert hatten, ausgewertet. Es wurde festgestellt, dass die Sieben-Tage-Inzidenz nach den Demonstrationen in den betroffenen Landkreisen, aus denen die Busverbindungen kamen, deutlich stärker anstieg als in anderen Landkreisen. Bis Weihnachten 2020 hätten zwischen 16.000 bis 21.000 COVID-19-Infektionen verhindert werden können, so die Wissenschaftler der Studie, wenn man die Querdenker-Kundgebungen abgesagt hätte.
Aus dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts geht hervor, dass sich täglich mehr als 1.000 Mitarbeiter aus Gesundheitsberufen in Deutschland mit SARS-CoV-2 infizieren. Im Januar 2021 kamen fast 33.000 neue Fälle hinzu. Seit Beginn der Pandemie meldete das RKI bisher 111.076 Infizierte bei Mitarbeitern im Gesundheitssystem, davon 62.400 bei Beschäftigten in Krankenhäusern, Arztpraxen, Rettungsdienst und anderen Einrichtungen.
Mehr als 48.600 Infizierte arbeiten in Pflegeheimen, Obdachlosen-, Behinderten- oder Asylunterkünften. Das Personal in Krankenhäusern (20.591 Fälle) und in Pflegeheimen (21.869) war am häufigsten betroffen. Mehr als 3.000 infizierte Mitarbeiter wurden stationär behandelt, 193 Mitarbeiter aus Gesundheitsberufen sind bisher an COVID-19 verstorben.
Die gute Nachricht ist: Die Impfbereitschaft unter Pflegefachpersonen hat sich aufgrund vermehrter Informationen in den vergangenen Wochen deutlich erhöht. Rückmeldungen aus den Kliniken ergaben, dass sich 80 bis 90 Prozent der Pflegenden impfen lassen wollen. Dieser Trend sei höher als in den Alten- und Pflegeheimen, so die Bundespflegekammer. Es gäbe mittlerweile weniger absolute Impfgegner, nachdem man mit gezielten Informationskampagnen den zahlreichen Falschinformationen über die neuen Impfstoffe entgegengetreten sei. Neben vielen Ängsten aufgrund der noch immer kursierenden Impfmythen gibt es auch die Sorge um arbeitsrechtliche Konsequenzen bei den Impfgegnern. Die Münchner Arbeitsrechtlerin Dr. Stephanie Haas sieht die Impfentscheidung zwar prinzipiell als eine private Sache an, betonte aber die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers:
„Arbeitgeber haben eine Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitern und Patienten.“ Nicht geimpftes Personal könne dann dort eingesetzt werden, wo kein Gefährdungspotenzial für andere bestehe. „Wenn es überhaupt keine Einsatzmöglichkeiten mehr für Ungeimpfte gibt, käme als letzte Konsequenz aber auch personenbedingte Kündigung in Betracht.“
Fragen zu stellen ist vollkommen richtig und liegt in der Natur von uns Menschen. Dabei darf es aber nicht bleiben, gerade wenn die Gesundheit und das Leben anderer Menschen gefährdet ist. Wer fragt, muss nach Antworten suchen. Nach einer naturwissenschaftlichen Ausbildung sucht man die Erklärungen auch genau dort. Es erscheint plausibel, dass Wissenschaftler sich genau in dem Bereich besonders gut auskennen, in dem sie seit vielen Jahren forschen. Auch wir kennen uns genau dort am besten aus, wo wir am häufigsten unterwegs sind.
Ein gutes Werkzeug, um Profilierungsgehabe von echter Fachkompetenz zu unterscheiden, ist, zu schauen, wo genau sich ein Wissenschaftler spezialisiert und was er bislang zu diesem Thema veröffentlicht hat. Wichtig ist, ob die Fach-Community in Deutschland oder weltweit diesen Fachexperten als solchen respektiert.
Es braucht aber auch ein Stück Vertrauen in die Fähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein von Wissenschaftlern. Genauso wie unsere Patienten unseren Fähigkeiten vertrauen müssen.
Berichte von Ärzten häufen sich, die im Dilemma zwischen Toleranz und Verantwortung stehen. Einerseits gilt das persönliche Entscheidungsrecht der Mitarbeiter, sich für oder gegen eine Schutzimpfung auszusprechen. Andererseits stehen Ärzte in der Verantwortung für die Gesundheit der ihnen anvertrauten Patienten.
Mitarbeiter im Gesundheitswesen haben eine hohe Kontaktzahl mit Personen, die momentan noch nicht geimpft sind. Darunter können Patienten sein, die akut mit SARS-CoV-2 infiziert sind. Weiterhin gibt es Gruppen, die im Moment noch nicht geimpft werden können. Hierzu zählen auch alle Schwangeren, die jedoch ein höheres Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf haben. Schwangerschaftsverlauf und Outcome des Kindes sind bei einer SARS-CoV-2-Infektion mehr als üblich gefährdet.
Man kann in Punkten unterschiedlicher Meinung sein und diesen Standpunkt beibehalten. Man kann sich aus persönlichen Gründen gegen eine Impfung entscheiden.
Man kann aber nicht andere Menschen gefährden, indem man sich nicht an plausible und wissenschaftlich basierte Regeln hält. Während einer Pandemie sind Großveranstaltungen ohne Einhaltung der Hygieneregeln ein Affront gegen die Mitmenschlichkeit.
Man kann nicht im Gesundheitssystem arbeiten und dabei die ihm anvertrauten Patienten gefährden. Wer schützt diejenigen, die nicht geimpft werden können vor denen, die nicht geimpft werden wollen?
Unser Kopf ist rund, damit wir auch einmal um die Ecke denken können. Aber eben nicht quer.
Der Autor ist Gynäkologe und der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Bildquelle: Vinicius "amnx" Amano, unsplash