Wir hatten beide noch keine zwei Worte gewechselt, da wirbelte sie schon herum, hängte ein Bild ab und räumte das Zimmer um. „Das stört Sie doch sicher auch.” Und so begann der Wahnsinn im Krankenzimmer.
Ich nenne meine Protagonistin Serafina, gegen die übrigens selbst die Tupper-Lady Britta reine Erholung war. Diese Dame hier brachte mich definitiv an den Rand des Wahnsinns. Ihr werdet schnell merken, was ich meine.
Eine Onko-Station ist kein Streichelzoo. Wir alle sind und waren krank, der Kammerton wird von Demut gesetzt. Serafina setzte dazu einen Kontrapunkt. Laut und bunt. Sie erschien im wehenden Mantel mit einer schrillen Wintermütze auf dem Kopf, umgeben von einer Duftwolke aus schwerem Parfüm in der Tür. Kein Klopfen. Sie rauschte dynamisch rein und musterte sofort kritisch das Zimmer – und mich natürlich. So, als hätte sie die Wahl und könnte sagen: „Nein, das gefällt mir hier nicht. Zeigen Sie mir bitte eines mit einer besseren Aussicht.“
Stattdessen stellte sie mit einem Seufzer ihre drei Gepäckstücke – von denen der Kosmetikkoffer fast so groß war wie der Reisekoffer – neben ihr Bett. Wir hatten beide noch keine zwei Worte gewechselt, da wirbelte sie auch gleich herum, hängte ein Bild ab und sperrte die tickende Uhr ins Badezimmer. „Das stört Sie doch sicher auch“, sprach sie und schaute mich provokant abschätzig an. „Außerdem sollte das Fenster besser offen stehen. Sie liegen ja direkt am Fenster, dann können Sie das ja gleich mal erledigen. Die Luft steht hier.“ Dabei machte sie eine fächelnde Handbewegung und verschwand erst mal mit ihrem Kosmetikkoffer türknallend im Bad.
Uffz, das war keine neue Zimmergenossin. Das war eine Art Heimsuchung. Was hatte ich verbrochen, dass mir das Schicksal diese Frau schickte? Ich ahnte, dass sie sich im Bad erst mal ordentlich austoben und die Anordnung meiner Tübchen und Täschchen garantiert nicht so lassen würde, sondern mit großem Vergnügen ihre eigene gestalterische Note setzen würde. Der Blick, der dann die Szene bestimmte, bestätigte dies. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck auf den Lippen und weiterhin straffer Körperhaltung betrat sie wieder die Bühne, also unser Zimmer.
Ein Gedanke hatte sich, während sie im Badezimmer wirkte, nicht abschütteln lassen, ich kannte sie irgendwoher. Woher bloß? Dann erleuchtete mich ein Gedankenblitz und ich sah alles ganz klar – ich habe nämlich ein wahnsinnig gutes Personen- und Namensgedächtnis. Natürlich, ohne Zweifel, das war die Darstellerin aus einer mir bekannten Daily Soap, ich hatte einen C-Promi auf meinem Zimmer, Zimmer 38. Ich grinste in mich hinein.
Sie kam extra aus NRW und hatte sich unter einem Aliasnamen in der Klinik „eingebucht“. Und lag nun neben mir in derselben reichlich nüchternen, nicht gerade pompösen Krankenzimmerkulisse eines öffentlichen Krankenhauses. Mein Grinsen wurde breiter. „Klappe, die erste, wir drehen.“
Sie dagegen war weiter in ihrer aktuellen Selbstinszenierung verstrickt und sah mich strafend an: „Das Fenster ist ja noch immer geschlossen!“ „Nun“, sagte ich, „stimmt, und das wird auch so bleiben. Ich liege nämlich wegen einer akuten Lungenentzündung hier und darf Sie außerdem darauf hinweisen, dass es Januar ist und wir der Jahreszeit entsprechend draußen Minustemperaturen haben.“ Die Theatralik, die in ihrem vorwurfsvollen Blick lag, war filmreif. Gelernt ist gelernt. Sie nahm Anlauf, um mir etwas zu entgegnen, aber es fiel ihr wohl nichts Passendes ein. Widerspruch war sie nicht gewohnt.
Daher beschloss sie, sich erst mal geräuschvoll und stöhnend ihrem Gepäck zuzuwenden. Das technische Equipment stapelte sich auf ihrer Bettdecke und das Mobiltelefon klingelte ohne Unterlass. Schließlich verließ sie das Zimmer auf eine Zigarettenlänge und betrat mit zigarettenrauchgeschwängerten Klamotten nach kurzer Zeit wieder den Raum. Kurz, es stank nach Kneipe. Ich öffnete für ein paar Minuten das Fenster. Die Lage entspannte sich leicht.
Das Glück währte allerdings nur kurz. Denn das von mir eingestellte Fernsehprogramm wurde natürlich nicht von ihr goutiert und wir drückten wie zwei Playstation-Zocker andauernd auf die Tasten der Fernbedienung, um ein jeweils anderes Programm anzusteuern. Ich war schnell von diesem Spiel genervt und kramte mein Buch heraus. Lieber etwas Gedrucktes als dieses Theater.
So eine angestrengte Atmosphäre hatte ich bisher noch nicht erlebt. Ich kam mir vor wie in einem Meeting mit einem konkurrierenden Kollegen, der eine andere Präsentation durchsetzen möchte oder sich in Position wirft, um beim Chef zu punkten. In der Arbeitswelt war ich stets auf solche Situationen vorbereitet, kannte sie gut und hatte sogar Freude daran, sie zu lesen und zu knacken. Aber hier in der Klinik, im Krankenzimmer mit einer durchaus schwierigen Diagnose, das war nicht nur anstrengend, sondern auch reichlich überflüssig.
Ehrlich gesagt hatte es auch einen leichten Touch von Kindergarten. Reif konnte man dieses Verhalten jedenfalls nicht nennen. Ich beschloss, „meine Mannschaft“ (schließlich war ich auf der Station ein alter Hase) in Stellung zu bringen und – gleich morgen – um die Verlegung in ein anderes Zimmer zu bitten. Ich hatte keine Energie, um in einen Nahkampf zu gehen. Meine Kraft sollte einzig und allein in meine Genesung gesteckt werden und nicht in die Erziehung dieses Früchtchens. Ich löschte nach zwei Seiten krampfhafter Lektüre das Licht und zog mir die Schlafmaske über die Augen. Für heute hatte ich genug. Ende der Durchsage. Vorhang.
Der Morgen darauf war fast noch schlimmer als der Abend zuvor. Ich hatte mir wohlweislich eine Schlaftablette geben lassen und war dementsprechend zerschlagen. Serafina war Gott sei Dank schon im Badezimmer und ich konnte mich und meine Gedanken erst mal ordnen. Als sie aus dem Badezimmer kam, verkündete sie gleich: „Ich werde heute erst mal um ein Einzelzimmer bitten, denn das steht mir ja zu. Ich bin ja schließlich privat versichert.“ Zu gerne hätte ich diese Idee umarmt, aber leider wusste ich, dass ein Einzelzimmer auf einer Onko-Station so gut wie ausgeschlossen ist.
Denn merke: Ein Einzelzimmer bekommst du nur mit Keim, Baby! Das hätte ich ihr am liebsten entgegnet, verkniff es mir aber. Sollte sie sich mal schön eine Abfuhr abholen. Die Patientenmanagerin würde das schon entsprechend formulieren.
Das Frühstück kam und meine Lieblingsservicekraft legte mir dazu noch eine Zeitung aufs Brötchen und baute ein paar Säfte dazu. Was war los? Feiertag oder hatte ich im Wettbewerb um die entspannteste Patientin gewonnen, von dem ich nichts wusste? Dann zwinkerte sie mir verschwörerisch zu und verließ den Raum. Die Reaktion kam postwendend: „Ach, auch privat? Na, da haben die uns ja doch wohl richtig zusammengelegt.“ Fast hätte ich den Saft verschüttet, konnte mich aber noch fangen. Immerhin, sie hatte die Insignien der Privatpatientenstellung sofort gedeutet. Bravo!
Ich habe den Irrtum nicht aufgeklärt und hatte meinen Spaß und vor allem nutzte ich die nächste Gelegenheit, um meinen Zimmerwechsel vorzubereiten. Leider ging das nicht so flott, wie gewünscht. Noch zwei Nächte musste ich aushalten. Antje, die Patientenmanagerin, versprach mir, sich um die Sache zu kümmern. Sie verstand sofort, dass die Zimmersituation medizinisch-menschlich nicht gesund für mich war. Für Serafina wahrscheinlich auch nicht.
Am Nachmittag bekam Serafina Besuch. Na, ich sag mal besser, sie hielt Hof. Denn es war wirklich zum Schreien, wie sie ihre „Freunde“ herumkommandierte und schurigelte. Paolo kam mit zwei großen Tüten vom Feinkostgeschäft fröhlich, aber durchaus angespannt herein und flötete: „Mausi, deine Krebsschwänze waren aus, leider. Ich habe dir dafür Garnelen mit Avocado-Curry-Dressing besorgt. Außerdem waren die zyprischen Oliven nicht geliefert worden, dafür gibt es griechische, Schatzi.“ „Oh nein!“, rief sie. „Ausgerechnet.“ Er lächelte konspirativ in meine Richtung. Er wusste, dass ich wusste, was er dachte.
Angemerkt sei, dass es in einem Krankenzimmer ein unausgesprochenes Gesetz ist, dann, wenn „das andere Bett“ Besuch hat, der Mitbewohner auf Durchzug stellt, oder aber den Raum verlässt. Niemand möchte ernsthaft mitbekommen, worüber sich die anderen unterhalten. Selbstverständlich gab ich mir alle Mühe, diese Technik auch im aktuellen Fall anzuwenden, aber: es ging nicht!
Ich war verblüfft – auch das bekam ich mit –, wie diese zierliche Person, die dazu noch einen ersten Chemo-Cocktail intus hatte, all diese Dinge mit so großem Appetit essen konnte. Mir reichten schon der Geruch und die reine Vorstellung von Dill-Mayonnaise auf einer zartrosafarbenen Garnele, um mich innerlich zu schütteln. Sonst immer gerne, aber hier und heute? Lieber nicht. Serafina hingegen verspeiste eine Köstlichkeit nach der anderen und redete und redete.
Sie hatte ihren Mann verlassen, der aber ständig anrief, um ihr zu sagen, dass sie die Einzige sei, sein Lebenselixier, seine Göttin, sein besseres Ich, gab sie Paolo zu Protokoll. Er hätte nicht gemeint, was er gesagt habe. Er wäre schlicht überfordert gewesen. Natürlich könne sie sich auf ihn verlassen. Er sei eben nicht so stark wie sie.
Bei mir setzte sich gedanklich ein Puzzlestück an das andere und ich hatte schnell ein Gesamtbild vor Augen, das eine unglückliche und einsame Serafina zeichnete. So langsam verstand ich ihren divenhaften Auftritt, ihre fast kindlich-bockige Art. Hinter dem Privatpatientengetue steckte die pure Angst.
Ihre Freundin, die später zum Picknick dazu stieß, wurde erst mal angefahren, was ihr einfiele, so spät und dazu noch in diesem Aufzug zu kommen. „Du siehst ja aus, als hätte dich ein Bus überrollt. Warst du nicht beim Friseur?“ „D-d-doch“, stotterte sie hilflos. „Außerdem wolltest du doch endlich mal diesen grauenhaften Rock in die Altkleidersammlung geben. Wie lange willst du den denn noch tragen?“ Ihre Freundin schaute leicht verstört an sich runter und zuppelte an ihrem Rock, der eigentlich ganz gut aussah, wie ich fand.
Bei mir machte sich eine Mischung aus Mitleid und Entsetzen gepaart mit einer Prise Amüsiertheit breit. Das hier war besser als jedes Kino. Kein Fernsehprogramm konnte da mithalten. Ich tat so, als würde ich lesen, und hatte die – nicht eingestöpselten – Kopfhörer aufgesetzt. Ich wollte nichts verpassen. Es war zu köstlich. Das wahre Leben schreibt wirklich die besten Geschichten. Ich schwöre, das alles habe ich mir nicht ausgedacht.
An unserem letzten Abend wurde sie dann doch etwas ruhiger und erzählte mir sogar recht private Dinge. Ihre Mutter war sehr früh gestorben, daher machte sie selbst aus jedem Ehrentag eine große Sause. „Ich freue mich über jedes Jahr“, erwiderte sie, als ich sagte, dass mein fünfzigster Geburtstag bevorstünde und mich diese Zahl schon mächtig beschäftigen würde. „Hoffentlich gestalten die Doktores meine Zyklen so, dass ich nicht an meinem Geburtstag in der Klinik sein muss.“ „Mmmh … “, kommentierte sie gedankenverloren.
Am Morgen darauf trennten sich unsere Wege und auch wenn der letzte Abend relativ versöhnlich abgelaufen war, war ich doch froh, diese angespannte Zelle – denn so war es letztlich – verlassen zu können. Ich zog also um und traf auf Barbara. Eine ältere Dame mit großer Familie und interessanten Geschichten. Ein Kontrastprogramm sondergleichen. Aber davon an anderer Stelle mehr, die Geschichte um Serafina ist noch nicht zu Ende. Denn bereits am späten Nachmittag wurde eine neue Zimmernachbarin bei ihr einquartiert und, wie sollte es anders sein, auch da zog sie ihre Show ab. Nur war ihr diesmal Modell „harter Hund“ als Bettnachbarin zugewiesen worden.
Schon wenige Minuten nach dem Einzug der neuen, sehr rustikalen Lady hallte die Stimme der Neuen über den Flur. „Ditt ist ja unvaschämt. Die spinnt ja! Is die irre? Draußen isses arschkalt und ick soll ditt Fensta imma uff lassen. Nee, so jeht ditt nich. Wo is der Dokta? Der muss dett rejeln.“ Ein Getöse und Gezeter wie bei einem Angriff rebellischer Kräfte. Barbara und ich sahen uns verdutzt an und platzten los. Wir lachten und lachten.
Denn natürlich hatte ich meiner neuen Mitbewohnerin erzählt, was ich die letzten Tage aushalten musste. Wie fürchterlich und krampfig das gewesen war und wie befreiend dagegen unsere harmonische, kleine WG auf Zeit war. Wie es ausging, weiß ich nicht. Ich denke mal, der diensthabende Arzt – nebenberuflich Kindergärtner – hat ein Machtwort sprechen müssen, aber das war ja zum Glück nicht mehr meine Baustelle.
Ich begegnete Serafina noch einige Male auf dem Flur. Sie tat aber immer so, als würde sie mich nicht kennen und hatte es meist auch sehr eilig. Denn ihr Ziel war der luftige Balkon, vor dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Rauchen verboten“ hing. Hinter der Tür befanden sich zahlreiche Kippen und vier überquellende Aschenbecher. Wer es mag. Serafina zog es jedenfalls häufig mit dem gesamten „Infusionsgeraffel“, asiatischen Hausschuhen und einem kleinen Swarovski-Täschchen bewaffnet genau an diesen Ort, um, wie sie sagte, zu „süchteln“.
Oft hatte sie dabei Paolo im Schlepptau. Meist natürlich, wenn er zuvor – fast jeden zweiten Tag – immer wieder tapfer die Feinkosttüten angeschleppt hatte. Ich bewunderte ihn für sein Durchhaltevermögen und seine Nehmerqualitäten. Das ist in der Tat ein wahrer Freund. Hoffentlich wusste das Serafina auch zu schätzen.
Drei Tage später kam ich am Schwestern-Glaskasten vorbei und staunte nicht schlecht. Neben Kopierer, Standwaage und Dokumentenrollwagen waren kleine Tischchen mit Torten in allen Geschmacksrichtungen und Größen aufgebaut. Als ich fragte, was denn der Anlass für diese Tortenschlacht sei, bekam ich eine noch erstaunlichere Antwort: „Die hat uns die Patientin von Zimmer 38 spendiert.“ „Wie, Serafina?“, fragte ich verblüfft.
„Ja, genau die. Sie hat heute Geburtstag. Nehmen Sie sich doch auch ein Stück, da ist genug da für mindestens zwei weitere Stationen. Wir haben schon fast alle aus dem Haus informiert, dass sie sich bei uns ein leckeres Stück Torte abholen können.“ Serafina konnte augenscheinlich auch süß.
Wie ferngesteuert nahm ich mir ein Stück Zitronen-Biskuitrolle und setzte mich damit gedankenverloren auf mein Krankenbett. Serafina war – und bleibt mir bis heute – ein absolutes Rätsel.
Den Beitrag über Serafina hatte ich schon seit Wochen gedanklich im Kasten. Ich wollte nur noch ein wenig an ihm rumfeilen und ihn irgendwann auf meinem Blog veröffentlichen. Vorgestern dann der Schock: Ich mache den Fernseher an, sehe das großflächige Portraitfoto von Serafina im Hintergrund und die schwarze Einfärbung schlägt mir ins Gesicht.
Ich habe gar nicht mehr gehört, was der Moderator gesagt hat, mir schossen die Tränen in die Augen und ich habe hemmungslos geweint. Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein. Wir beide passten nicht zusammen, sie nicht zu mir, ich nicht zu ihr, aber sie war ganz eindeutig eine Farbe im Leben, ein Typ und das kann nicht jeder von uns sagen. Sie war doch noch so jung, gerade mal Ende vierzig, warum jetzt? Was war passiert? Es ging ihr doch gut.
In der Presse hieß es, sie habe nur noch wenige Freunde gehabt. Eine Paketbotin habe die Polizei verständigt und die hat dann ihre Wohnungstür öffnen lassen. Das hat sie nicht verdient, das hat niemand verdient. Ich will sie mit unserem gemeinsamen letzten Abend in Erinnerung behalten und außerdem mit den Unmengen von Kuchen. Ein Mensch, anders eben – wie so viele andere auch. Lebe wohl, Serafina!
Dieser Beitrag gehört zum Blog „Zellenkarussell. Mit der Krankheit dreht sich das Leben plötzlich schneller“.
Bildquelle: Sofia, unsplash