Hilft Vitamin D gegen COVID-19? Zu dem Thema sind seit Beginn der Pandemie zahlreiche Fail-Studien erschienen. Zeit für einen Fakten-Check.
Seit gut 19 Monaten begleitet uns Corona nun schon. Und immer noch nicht wissen wir, ob Vitamin D bei COVID-19 irgendeinen Nutzen hat oder nicht. Immer wieder erscheinen Studien, die zeigen wollen, dass eine Supplementierung mit Vitamin D zur Behandlung von COVID-19 sinnvoll ist. Dieser Ansatz beruht vor allem auf der Beobachtung, dass COVID-19-Patienten oft geringe Vitamin-D-Spiegel aufweisen. Allerdings ist umstritten, ob es sich dabei um einen ursächlichen Zusammenhang handelt.
COVID-19 und Vitamin D: Aufsehen und KritikOft ist es anhand des Studiendesigns gar nicht möglich, klare Aussagen zur Kausalität zu liefern. Doch selbst so manche RCT bleibt umstritten.
Zuletzt sorgte Anfang des Jahres eine spanische Vorab-Veröffentlichung von Nogues et al. für Aufsehen und Kritik. Laut ihrer Ergebnisse schneidet Vitamin D bei der Behandlung von COVID-Patienten außergewöhnlich gut ab – Vitamin D reduziere die Sterblichkeit um ganze 60 Prozent. Doch inzwischen ist die Studie zurecht vom Preprint-Server des Journals The Lancet wegen wissenschaftlicher Mängel verschwunden.
„Würden diese Ergebnisse stimmen, wäre das eine Sensation und die wirksamste COVID-19-Therapie überhaupt“, kommentierte Pharmazeut Prof. Martin Smollich damals auf Twitter. Dort konnte man das bisher nicht durchgeführte Peer-Review-Verfahren aktuell sozusagen im Schnelldurchlauf miterleben. Was hat es mit der Studie also auf sich? Was sagen Experten in den sozialen Medien?
Nogues et al. hatten für ihre Studie 930 hospitalisierte COVID-Patienten rekrutiert. Von diesen erhielten – so schreiben es die Autoren, oder so lässt es sich beim flüchtigen Lesen zumindest verstehen – „randomisiert“ 551 Patienten (59,2 %) Calcifediol, die Vitamin-D3-Vorstufe. Die anderen 379 Patienten (40,7 %) erhielten keine zusätzliche Therapie. Von den Patienten, die Calcifediol erhielten, mussten 30 (5,4 %) auf der Intensivstation behandelt werden und 36 (6,5 %) starben. Ohne Calcifediol-Gabe mussten 80 Patienten (21,1 %) intensivmedizinisch betreut werden und 57 Patienten (15 %) starben. Laut der Autoren reduziert die zusätzliche Calcifediol-Gabe die Sterblichkeit demnach um mehr als 60 %. Doch es fallen gleich mehrere Ungereimtheiten in der Studie auf.
Bei der Randomisierung stellt sich schon die erste Frage: Warum sind die beiden Gruppen so unterschiedlich groß (59,2 % Calcifediol vs. 40,7 % Kontrolle)? Der Blick in die Methoden verrät, dass nicht die Patienten zufallsverteilt waren, sondern die Stationen, auf denen sie behandelt wurden. Insgesamt gab es acht COVID-Stationen, fünf davon wurden zufällig für die Intervention ausgewählt. Das heißt, dass dort alle Patienten die Calcifediol-Therapie erhielten, diejenigen auf den übrigen drei Stationen nicht.
Wichtig ist an dieser Stelle, dass es sich somit gar nicht um eine randomisierte Studie, sondern allenfalls um eine Cluster-randomisierte Studie handelte. Das wird aber nirgends erwähnt. Auch bei der Auswertung der Daten wird das nicht berücksichtigt, obwohl in dem Fall eine andere Auswertungsmethode herangezogen werden muss. Einige Kommentatoren auf Twitter zweifeln sogar an der Cluster-Randomisierung: Warum wurde anstatt 5:3 nicht 4:4 randomisiert? Das ist zumindest merkwürdig, beantwortet wird diese Frage nicht. Mit anderen Worten: Ist die Studie vielleicht einfach eine ganz normale Beobachtungsstudie, mit entsprechend geringem Evidenzniveau?
Weiterhin stellt sich heraus, dass die Patienten in den Clustern bereits unterschiedliche Vitamin-D-Level als Ausgangswert aufwiesen: In den Kontrollclustern waren Patienten mit schwerem Vitamin-D-Mangel überrepräsentiert. Das liegt möglicherweise daran, weil auf einigen der Stationen schwerer erkrankte Patienten behandelt wurden als auf anderen.
Das ernüchternde Fazit: Die schlecht durchgeführte Studie beweist keine Wirksamkeit von Vitamin D bei COVID-19. Und was ist mit dem Punkt „Zumindest schadet es nicht“? Dazu ergänzt Prof. Smollich: „Das Hauptrisiko ist INDIREKT: Wer an Vitamin D glaubt, vernachlässigt ggf. wirksame Schutzmaßnahmen. Von Evidenz mal ganz abgesehen.“
Mit einer kürzlich veröffentlichte Cochrane Review wollen Forscher jetzt einen Schlussstrich ziehen, bis neue Daten vorliegen. „Es gibt derzeit keine ausreichenden Beweise, um den Nutzen und Schaden einer Vitamin-D-Supplementierung als Behandlung von COVID-19 zu bestimmen”, schreiben die Autoren der Übersichtsarbeit. „Die Evidenz für die Wirksamkeit einer Vitamin-D-Supplementierung zur Behandlung von COVID-19 ist sehr ungewiss.”
Auch die Gesellschaft für Endokrinologie hatte sich bereits in einem Statement zur Rolle von Vitamin D in der Corona-Pandemie geäußert. Die Datenlage sei auch weiterhin ohne eindeutigen Beweis für einen Vorteil von Vitamin D außerhalb der belegten Wirkung auf den Knochen. „Darüber hinaus mehren sich die Hinweise dafür, dass viel nicht unbedingt viel hilft und möglicherweise sogar eher nachteilig sein könnte“, heißt es weiter.
Generell sei eine Supplementation zur COVID-Prophylaxe oder -Therapie nicht zu empfehlen. Anders sieht das für Personen in Risikogruppen aus, also unter anderem ältere Menschen und chronisch Kranken, die sich nur selten im Freien aufhalten. Hier rät die Fachgesellschaft zu einer täglichen Einnahme von 400 bis 1.000 IE Vitamin D, um einem Mangel vorzubeugen.
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