Vor knapp zehn Jahren hatte der Wirkstoff TGN1412 beim ersten klinischen Test sechs Menschen fast umgebracht. Nun feiert er unter einem anderen Namen eine erfolgreiche Wiederauferstehung. Eine Geschichte um die Analyse einer Katastrophe und deren Konsequenzen.
Schon der Name dieser Leukozyten-Subpopulation deutet auf ihre vielfältigen Einsatzgebiete hin, wenn wieder einmal das Immunsystem für saubere Verhältnisse im Körper sorgen muss. Regulatorische T-Zellen (Treg) beenden anscheinend nicht nur bei einer Infektion die Attacke gegen den Feind, wenn die Gefahr vorüber ist, sondern begrenzen auch den Schaden, den eine massive Entzündung im Gewebe anrichtet. Diese Zellen senken nach der Transplantation das Risiko einer Abstoßung und schützen den Fötus während der Schwangerschaft vor der übereifrigen Abwehr der Mutter. Schließlich helfen sie mit, die Folgen eines Myokardinfarkts oder eines Schlaganfalls zu vermindern. Mäuse ohne regulatorische T-Zellen sterben bald im Laufe ihres Lebens an einer schweren Autoimmunreaktion.
Kein Wunder, dass Immunologen schon seit Jahrzehnten versuchen, diese Zellen mit geeigneten Agentien zu aktivieren, um sie bei Bedarf für den klinischen Einsatz scharf zu machen. Eines dieser vielversprechenden Entwicklungsprojekte wurde erst auf tragische Weise berühmt, schien dann so gut wie beerdigt und feiert jetzt seine nicht ganz so spektakuläre Wiedergeburt: TGN1412 nannte 2005 die Würzburger Firma TeGenero das scheinbare Goldstück in ihrer Pipeline. Schon in den 90er Jahren nahmen sich Forscher ein Oberflächenmolekül vor, mit dem man offensichtlich Treg besonders gut aktivieren konnte, während andere Zellen wie etwa CD4 Effektor-T-Zellen auch, aber schwächer reagierten. Ein solcher Antikörper gegen CD28, der die Signalkette hinter dem Molekül startete (CD28SA= CD28 Super-Agonist), brachte in Rattenversuchen vorzugsweise die regulatorischen Zellen zur Vermehrung, während andere Zellpopulationen nur schwach reagierten. Das alles geschah nach der damaligen Einschätzung der Wissenschaftler unabhängig von einer Beteiligung des antigen-spezifischen T-Zell-Rezeptors. CD28 gilt als Co-Rezeptor für die Erkennung von Antigen durch die T-Zelle und startet die Produktion von Zytokinen für die Proliferation, das Überleben und die Differenzierung von naiven T-Zellen. Bei Effektorzellen sind das vor allem proinflammatorische Zytokine wie IL-2 oder IFN-γ oder TNF-α.
Alle präklinischen Studien deuteten auf einen geraden Weg von TGN1412 bis zur Zulassung hin: Erfolgreiche Versuche an Nagern, Javaneraffen und in der Zellkultur mit Humanzellen. Der klinische Test an acht Freiwilligen in London am 13. März 2006 endete jedoch in einem Misserfolg – für sechs von ihnen fast tödlich. Es kam zu einem „Zytokinsturm“, der mit Übelkeit, Kopf- und Rückenschmerzen begann und einige Stunden später zu einem lebensbedrohlichen Organversagen führte, verursacht durch eine massive Ausschüttung einer ganzen Reihe proinflammatorischer Zytokine. Glücklicherweise konnten alle Beteiligten gerettet werden und erholten sich in den Monaten danach wieder. Eines der Opfer verlor bei diesem Unfall allerdings einige Finger- und Zehenglieder und wurde mit einer siebenstelligen Summe entschädigt. Der Unfall schien nicht nur das Schicksal von TeGenero zu besiegeln, die wenige Monate später pleite ging, sondern auch das des Antikörpers TGN1412.
Unmittelbar nach dieser total missglückten Phase-I-Studie begannen die Untersuchungen. Was war schief gelaufen? Als erstes schien die verabreichte Menge des Antikörpers viel zu hoch gewählt. Experten kritisierten, dass die eingesetzte Dosis von 0,1 mg/kg Körpergewicht ausreichte, um die meisten der CD28-Rezeptoren auf T-Zellen zu besetzen. Bald danach wurden erste Konsequenzen daraus gezogen: Die Behörden schreiben jetzt bei den ersten humanen Tests mit völlig neuartigen Wirkmechanismen eine Dosis mit einer maximalen Okkupanz von 10 Prozent der Zielmoleküle vor. Aber warum war das bei den vorangegangenen Tierversuchen nicht aufgefallen? Dort hatten die Wissenschaftler das 500fache dieser Dosis ausprobiert. Bei den untersuchten Cynomolgus-Affen verlieren die T-Effektorzellen anders als beim Menschen das CD28-Molekül im Laufe ihrer Reifung – und leider auch anders als bei anderen Affenarten [Paywall], die nicht auf der Liste der Versuchstiere standen. Ratten und Mäuse leben unter kontrollierten und sehr hygienischen Bedingungen: Wenig Arbeit für T-Effektor-Memoryzellen, die bei ihrer Aktivierung das zweite, T-Zell-Rezeptorsignal brauchen, um die Entzündungsreaktion anzuwerfen. Dagegen reagierten regulatorische T-Zellen sehr wohl auf den Anstoß ihres Costimulators CD28, besonders dann, wenn die Dosis vergleichsweise niedrig gehalten wurde. Sie waren es auch, die so die wenigen aktivierten T-Effektorzellen in Schach hielten. Auch in der Gewebekultur, so zeigten in Untersuchungen der Würzburger Arbeitsgruppe von Thomas Hünig, hatte man sich für ein System entschieden, das die Verhältnisse im Körper nur unzureichend widerspiegelte. Das Team des Mitentwicklers von TGN1412 fand heraus, dass das Signal des T-Zell-Rezeptors bei Leukozyten aus dem peripheren Blut viel zu schwach ist, um die Effektorzellen wie in London zum Rasen zu bringen. Wenn dagegen die T-Zellen so wie im lebenden Körper die Möglichkeit haben, in einem sehr dichten Zellverband ständig ihre Nachbarn „abzutasten“, stoßen sie schnell mal an ein verdächtiges Molekül, das vielleicht von einer vorangegangenen Infektion übrig geblieben ist.
Die Gründe für das Versagen im ersten Test am Menschen waren aufgedeckt. Wie ging es dann mit dem Antikörper weiter? Für einen russischen Investor schien das Projekt der Beherrschung von regulatorischen T-Zellen mit dem „Super-Agonisten“ immer noch sehr reizvoll. Unter dem Namen TAB08 statt TGN1412 durchlief der Antikörper neue Tests mit einer zweitägigen Vorkultur mit dichtem Zellrasen und zeigte die Aktivität, die vor 2006 nicht zu erkennen gewesen war. Zusammen mit einer kräftigen Dosis CD28-Stimulation ließ sich der Zytokinsturm nun auch in vitro simulieren. Bei einer sehr geringen Konzentration wirkte schließlich aber auch TAB08 nur mehr auf Treg und nicht mehr auf die gefürchteten Effektorzellen. Gab man Methlyprednisolon zur Kultur, hemmte das auch bei höherem CD28SA-Titer die Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen, während die T-Zell-Kontrolleure deutlich weniger von dem Kortikosteroid beeindruckt waren. Schließlich wagte TheraMAB, der neue Eigentümer, eine neue Phase-I-Studie. Dabei lag die Dosis des Antikörpers bei maximal 7µg/kg Körpergewicht, also noch einmal mehr als eine Zehnerpotenz tiefer als bei TGN1412 und wanderte über eine Infusion über mehrere Stunden langsam in den Kreislauf der Probanden. Nachdem dieser erste neue Versuch ohne Nebenwirkungen geblieben war, probierten die Ärzte den neuen alten Wirkstoff an neun Patienten mit rheumatoider Arthritis aus. Auch dabei vermeldete die Firma beeindruckende Ergebnisse. Bei den Patienten besserte sich der Zustand der geschwollenen Gelenke kurz nach der Behandlung um 20 bis teilweise 70 Prozent. Das ist mehr als vergleichsweise effektive andere Rheuma-Biologika wie Infliximab, Etanercept oder Adalimumab erreichen. Zudem konzentriert sich der Antikörper in niedriger Dosierung auf die immunologisch aktiven Bereiche, in denen er regulatorische T-Zellen anspricht.
Auch wenn Mausmodelle aus den erwähnten Gründen nicht als wahres Abbild des Menschen gelten dürfen, lassen sich bei einer ganzen Reihe von Krankheitsmodellen zumindest Möglichkeiten für den Einsatz eines CD28-Superagonisten ableiten. Bei einer zerebralen Ischämie reduziert der Antikörper das Ausmaß der neurologischen Schäden [Paywall] über die Vermehrung regulatorischer Zellen. Ähnliches gilt für EAE-Mäuse, dem Modell für Multipler Sklerose, Kolitis, Glomerulonephritis oder auch Transplantationen von Niere, Herz, Leber oder Speiseröhre bei Nagern, wo die T-Zell-Kontrolleure mithelfen, das Organ aktiv im Körper zu halten. Thomas Hünig, Mitentwickler von TGN1412 und jetzt Berater von TheraMAB, hofft auf vielerlei Einsatzgebiete des wiederauferstandenen einstigen Unglücksbringers. „Überall, wo regulatorische T-Zellen ihre Arbeit verrichten, lässt sich das Prinzip transienter Treg-Aktivierung anwenden. Das erlaube einen möglichen Einsatz bei vielen Autoimmunerkrankungen. Auch Marcel Kenter und Adam Cohen aus dem holländischen Leiden zeigen sich in einem Editorial im British Journal of Clinical Pharmacology beeindruckt. „Der außergewöhnliche Entwicklungsweg von TGN1412 zeigt, dass man innovative und möglicherweise gefährliche Wirkstoffe sicher im Menschen testen kann, wenn man nur ausreichend genaue Einsicht in ihren Wirkungsmechanismus hat. Weitere Voraussetzung sind gute präklinische Studien mit Biomarkern, die eine genaue Voraussage der Wirkung im Menschen bei geeigneter Dosis erlauben.“ Kurz: Totgesagte leben manchmal länger.