Immer noch werden vielerorts Oberflächen gereinigt und desinfiziert, obwohl Übertragungen mit SARS-CoV-2 in der Regel durch Aerosole stattfinden. Warum tun wir es trotzdem?
Im Laufe der Pandemie gibt es immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse über SARS-CoV-2. Studien und Untersuchungen von Ausbrüchen deuten mittlerweile alle darauf hin, dass die Mehrzahl der Übertragungen durch Aerosole stattfindet. Eine Übertragung über Oberflächen ist zwar möglich, wird aber mittlerweile nicht als signifikant angesehen.
Trotzdem werden immernoch vielerorts verstärkt Oberflächen gereinigt und desinfiziert. Denn es ist einfacher, Oberflächen zu reinigen, als die Belüftung ganzer Räume zu verbessern – vor allem im Winter. Regierungen, Unternehmen und Privatpersonen stecken also weiterhin große Mengen an Zeit und Geld in die Reinigung von (Ober-)Flächen. Bis Ende 2020 belief sich der weltweite Umsatz mit Flächendesinfektionsmitteln auf 4,5 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg von mehr als 30 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Im Dezember schrieb die Ingenieurin Linsey Marr von der Virginia Tech in Blacksburg einen Meinungsartikel für die Washington Post, in dem sie dazu aufrief, die Reinigungsbemühungen zu lockern. „Es ist klar geworden, dass die Übertragung durch das Einatmen von Aerosolen ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Übertragungsweg ist“, sagt Marr, die sich mit der Übertragung von Krankheiten über die Luft beschäftigt. Übermäßiges Augenmerk auf die Reinheit von Oberflächen nehme begrenzte Zeit und Ressourcen in Anspruch, welche besser in die Belüftung oder die Dekontamination der Atemluft investiert werden könnten, so ihre Aussage.
Ein Teil des Problems besteht darin, dass Fachleute die Möglichkeit einer Übertragung durch Gegenstände und Oberflächen auch nicht wirklich ausschließen können. Die Richtlinien vieler Gesundheitsbehörden zum Umgang mit Oberflächen sind unklar, da wissenschaftliche Erkenntisse hierzu ständig im Wandel sind. Im November letzten Jahres führten die chinesischen Behörden Richtlinien ein, die eine Desinfektion von importierten Tiefkühlkostpaketen vorschreiben. Die CDC verweisen auf eine umfassende Liste von Mitteln, die SARS-C0V-2 abtöten, und schreiben: „Die häufige Desinfektion von Oberflächen und Objekten, die von mehreren Personen berührt werden, ist wichtig.“
Der Fokus auf die Oberflächen entstand gleich zu Beginn der Pandemie wegen dem, was man über andere Infektionskrankheiten wusste. Denn in Krankenhäusern können Erreger wie der methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA), das Respiratory Syncytial Virus (RSV) und das Norovirus an Bettpfosten haften oder auf dem Stethoskop eines Arztes von einer Person zur nächsten wandern. Sobald Menschen an dem Coronavirus erkrankten, begannen die Forscher also damit, Abstriche von Krankenhauszimmern und Quarantäneeinrichtungen zu machen, um nach Orten zu suchen, an denen das Virus lauern könnte. Und es schien überall zu sein.
In medizinischen Einrichtungen wurden persönliche Gegenstände wie Lesebrillen und Wasserflaschen positiv auf Spuren von viraler RNA getestet. Das Gleiche galt für Bettgitter und Lüftungsschlitze. In Quarantäne-Haushalten enthielten Waschbecken und Duschen die RNA, und in Restaurants wurden kontaminierte Essstäbchen aus Holz gefunden. Frühe Studien deuteten darauf hin, dass die Kontamination wochenlang andauern konnte. Siebzehn Tage nachdem das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess verlassen wurde, fanden Wissenschaftler virale RNA auf Oberflächen in den Kabinen der 712 Passagiere und Besatzungsmitglieder, die positiv auf COVID-19 getestet wurden.
Eine Kontamination mit viraler RNA sei aber nicht unbedingt ein Grund zur Sorge, so Emanuel Goldman, Mikrobiologe an der New Jersey Medical School in Newark. „Die virale RNA ist das Äquivalent zum Leichnam des Virus“, erklärt er. „Sie ist nicht zwangsläufig infektiös.“
Um das zu überprüfen, begannen Forscher zu testen, ob Coronavirus-Proben, die tagelang auf verschiedenen Oberflächen lagen, im Labor gezüchtete Zellen infizieren konnten. Eine Studie ergab, dass das Virus auf harten Oberflächen wie Plastik und Edelstahl sechs Tage lang infektiös blieb; auf Geldscheinen hielt es sich drei Tage lang und auf chirurgischen Masken mindestens sieben Tage lang. In einer späteren Studie kam heraus, dass das lebensfähige Virus auf der Haut bis zu 4 Tage lang nachweisbar war, auf Kleidung überlebte es jedoch weniger als 8 Stunden.
Obwohl diese Art von Experimenten zeigt, dass das Coronavirus auf Oberflächen überleben kann, bedeutet dies nicht, dass sich Menschen auf Oberflächen wie Türklinken anstecken. Goldman und andere warnen davor, zu viel in die Studien zum Überleben des Virus hineinzulesen, da die meisten keine Bedingungen testen, die außerhalb des Labors existieren. „Es waren Experimente, die mit riesigen Mengen an Viren begannen, nichts, was man in der realen Welt antreffen würde“, erklärt der Mikrobiologe. Andere Tests hätten künstlichen Speichel und kontrollierte Bedingungen mit hoher Feuchtigkeit und hohen Temperaturen verwendet, was die Kluft zwischen experimentellen und realen Bedingungen noch vergrößere.
Nur eine Handvoll Studien haben nach lebensfähigen Viren außerhalb des Labors gesucht. Tal Brosh-Nissimov, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am Assuta Ashdod Universitätskrankenhaus in Israel, und seine Kollegen nahmen Abstriche von persönlichen Gegenständen und Möbeln in Isolierstationen von Kliniken und Zimmern in einem Quarantäne-Hotel. Die Hälfte der Proben aus zwei Krankenhäusern und mehr als ein Drittel der Proben aus dem Quarantäne-Hotel waren positiv für virale RNA. Aber keines der viralen Materialien war tatsächlich in der Lage, Zellen zu infizieren, berichten die Forscher.
Forscher taten sich schwer, lebensfähige Viren aus Umweltproben zu isolieren, nicht nur von Oberflächen. In der einzigen Studie, bei der das erfolgreich war, züchteten die Forscher Viruspartikel aus Luftproben von Krankenhäusern, die wenigstens 2 Meter von einer Person mit COVID-19 entfernt gesammelt wurden.
Von April bis Juni nahmen die Umweltingenieurin Amy Pickering, damals an der Tufts University in Medford, Massachusetts, und ihre Kollegen wöchentlich Abstriche von Innen- und Außenflächen in einer Stadt in Massachusetts. Die Forscher berichteten daraufhin, dass die Warscheinlichkeit einer Infektion über Oberflächen bei 5 : 10.000 läge. Damit sei sie niedriger als bei Noro- oder Influezaviren und auch niedriger als die Übertragung durch Aerosole.
„Eine Übertragung über Oberflächen ist möglich, scheint aber selten zu sein“, sagt Pickering, die jetzt an der University of California, Berkeley, tätig ist. „Es müssen viele Dinge zusammenkommen, damit eine solche Übertragung stattfinden kann.“ Das könnte erklären, warum ein globaler Vergleich der staatlichen Maßnahmen zur Kontrolle der Pandemie in den ersten Monaten ergab, dass die Reinigung und Desinfektion gemeinsam genutzter Oberflächen zu den am wenigsten wirksamen Maßnahmen zur Reduzierung der Übertragung zählte. Abstand halten und Reisebeschränkungen, einschließlich Abriegelungen, wirkten am besten.
Beweise von Superspreading-Ereignissen, bei denen zahlreiche Menschen auf einmal infiziert werden, meist in einem überfüllten Innenraum, deuten eindeutig auf eine Übertragung über die Luft hin, so Ingenieurin Linsey Marr. „Man muss sich schon sehr verworrene Szenarien ausdenken, um Superspreading-Ereignisse mit kontaminierten Oberflächen zu erklären“, sagt sie.
Die WHO aktualisierte ihren Leitfaden am 20. Oktober und sagte, dass sich das Virus ausbreiten kann, „nachdem infizierte Menschen niesen, husten oder Oberflächen oder Objekte wie Tische, Türklinken und Handläufe berühren“. Desinfektionspraktiken seien wichtig, um das Potenzial für eine Kontamination mit dem COVID-19-Virus zu reduzieren.
Das Problem, mit dem Gesundheitsbehörden konfrontiert sind, so Marr: Es sei schwer, eine Übertragung über Oberflächen definitiv auszuschließen. Die Behörden zögern, den Menschen zu sagen, dass sie nicht vorsichtig sein sollen. „Man will nie sagen: ‚Oh, tu das nicht‘, denn es kann passieren. Und Sie wissen ja, wir sollten dem Vorsorgeprinzip folgen“.
Trotz der sich festigenden Daten könnte die Öffentlichkeit nach wie vor ein höheres Maß an Desinfektionen erwartet haben. Als das New Yorker Verkehrsunternehmen Metropolitan Transportation Authority (MTA) Ende September und Anfang Oktober letzten Jahres Fahrgäste befragte, gaben drei Viertel an, dass sie sich durch die Reinigung und Desinfektion bei der Benutzung von Verkehrsmitteln sicher fühlen.
Einen weiteren Vorteil könnten Desinfektionen außerdem bringen: Auch andere Keime werden eingedämmt und Infektionen in Krankenhäusern und anderen Orten könnten hierdurch verringert werden. Erste Tendenzen scheinen hier schon sichtbar zu sein – das Robert-Koch-Institut bewertet die Zahlen aber noch vorsichtig. Im Journal Lancet Infectious Diseases fordern Experten aus dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) und anderen internationalen Forschungseinrichtungen außerdem dazu auf, dass Hygiene und die Bekämpfung von Infektionen auch nach der Pandemie weiter von der Politik priorisiert werden sollte. „Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass durch unzureichende Hygiene, zu geringes Wissen über die Ausbreitungswege der Erreger, mangelnde ärztliche Ausbildung und fehlendes Interesse der Pharmaindustrie an Antibiotikaforschung viele unserer Risikopatienten schwer erkranken und sterben“, so die Ärzte in ihrem Aufruf.Bildquelle: pan xiaozhen, unsplash