Nachts sowie an Wochenend- und Feiertagen versorgt der Bereitschaftsdienst ambulante Notfälle – soweit die Theorie. In der Praxis entfällt ein guter Teil auf die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Mit Hochdruck wird an flächendeckenden Reformkonzepten gearbeitet.
Rund 150 kommunale Volksvertreter und Entscheidungsträger folgten kürzlich der gemeinsamen Einladung der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) des Verwaltungsbezirks Nordrhein, um sich über den aktuellen Stand der Reformpläne zur Umstrukturierung des ambulanten Notfalldienstes zu informieren. Endgültige Beschlüsse, beispielsweise über einzelne Standorte der Notdienstpraxen, gab es jedoch kaum zu verkünden, einzig die Reform des Fahrdienstes und der fachärztlichen Notdienste sei unstrittig. Stattdessen warben die verantwortlichen Körperschaften vornehmlich um das Vertrauen in die Reformvorhaben als Ganzes. „Es ist unbestritten, dass das Notfallsystem insgesamt optimiert werden kann“, betonte Kammerpräsident Rudolf Henke die Notwendigkeit einer Neuordnung. Indes war der KV-Vorsitzende Dr. Peter Potthoff darum bemüht, die wachsende Besorgnis über die Verschlechterung der ambulanten Versorgung außerhalb der Sprechzeiten zu beruhigen: „Das Reformpaket ist mit einem Umbau, aber nicht mit einem Abbau der Versorgung verbunden“. Ein zentrales Reformziel sei in diesem Zusammenhang eine intensivere Kooperation zwischen Vertragsärzten und Klinikärzten im Notdienst, um die Fehl-Inanspruchnahme der Notaufnahmen sowie des Rettungsdienstes zu reduzieren. Zu diesem Zweck arbeite man im Sinne des Versorgungsstärkungsgesetzes eng mit der Ärztekammer Nordrhein (ÄkNo) und der nordrhein-westfälischen Krankenhausgesellschaft (KGNW) zusammen. „Eine mit allen abgestimmte Reform, die bereits die kommende Gesetzgebung berücksichtigt, hätte Charme“, glaubt auch Henke.
Zu Beginn des Jahres hatte die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein ein umfassendes Reformpaket für den ärztlichen Notdienst beschlossen. Einer der Kernpunkte besteht in der Neugliederung des Rheinlands in höchstens sieben oder acht statt der aktuell 130 Notdienstbezirke, um das Dienstvolumen pro Jahr und Arzt künftig auf maximal 50 Stunden zu begrenzen. Im Zuge dessen sollen 41 allgemeine Notdienstpraxen auf diese Bezirke verteilt werden, ergänzt durch 8 HNO-, 8 augen- und 15 kinderärztliche Notdienstpraxen mit direkter Krankenhausanbindung. Zwar sänke die Zahl der Notfallpraxen damit von vormals 78 auf insgesamt 72, allerdings sollen bei Bedarf weitere Praxen eingerichtet werden können. Darüber hinaus sehen die Pläne der KV vor, den Fahrdienst vollständig vom Sitzdienst zu trennen und die Zahl der Fahrzeuge so zu halbieren. Kaum waren die Vorhaben der KV zur Beschlusssache gereift, grätschten die Delegierten der ÄkNo jedoch dazwischen und lehnten die Reformpläne in dieser Weise ab. „Die Notdienstreform muss sich darauf beschränken, Lösungen für die Regionen zu finden, in denen die Versorgung nicht ausreichend gewährleistet ist, ohne dabei funktionierende Strukturen zu belasten“, erklärte die Kammerversammlung damals. Seither treiben die beiden Körperschaften die Reformen in engem Austausch voran. Zwar setze „das Votum der Ärztekammer die Beschlüsse unserer vertragsärztlichen Selbstverwaltung nicht außer Kraft“, bekräftigt der KV-Vorsitzende Potthoff einerseits den Auftrag der Vertreterversammlung. „Doch stellten die Entschließungen der Kammer zumindest in Teilen die Umsetzung der Reform in Frage“, verteidigt er andererseits die Zusammenarbeit von KV und ÄkNo.
Dass eine Reformierung des ärztlichen Notdienstes längst überfällig ist, belegen auch die Ergebnisse des etwa zeitgleich mit den Reformplänen der KV Nordrhein veröffentlichten „Gutachtens zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus“. Im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) wurden dafür bundesweit mehr als 600.000 fallbezogene Kosten- und Leistungsdaten ambulanter Notfälle von 55 Krankenhäusern analysiert. Daraus geht hervor, dass für rund die Hälfte der Notfallbehandlungen keine krankenhausspezifische Leistung im Sinne einer Laboruntersuchung oder Bildgebung erforderlich sei. „Die Notaufnahmen der Krankenhäuser werden immer stärker zum Lückenbüßer für die eigentlich zuständigen Bereitschaftsdienste der KVen“, kritisierte der DKG-Geschäftsführer Georg Baum. Bei insgesamt einem Drittel der über acht Millionen ambulanten Notfälle in Krankenhäusern habe es sich um allgemeine Notfallbehandlungen gehandelt, die zu den Sprechstundenzeiten von den Hausärzten und außerhalb davon im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst hätten vorgenommen werden können. „Die wenigsten haben aber in der sprechstundenfreien Zeit durchgehend geöffnet“, bemängelt DGINA-Generalsekretär Timo Schöpke. Bei den verbleibenden 20 Prozent ambulanter Notfälle sei dagegen eine spezielle Behandlung von Nöten gewesen. „Diese Behandlungsfälle könnten aus medizinischer Sicht durchaus im vertragsärztlichen Bereich versorgt werden, wenn durch die KVen flächendeckend auch fachspezifische Bereitschaftsdienste bereitgestellt würden“, urteilen DKG und DGINA.
Aufgrund des unzureichenden Versorgungsangebots für Notfälle im niedergelassenen Bereich gerieten die Kliniken überdies zunehmend in eine Kostenfalle: „Die Krankenhäuser sehen sich in der Leistungspflicht für jeden, der Hilfe in einer Notaufnahme sucht“, erläutert DKG-Geschäftsführer Baum. Bei durchschnittlichen Kosten von mehr als 120 Euro und einem durchschnittlichen Erlös von 32 Euro pro ambulantem Notfall entstehe im Schnitt ein Fehlbetrag von knapp 90 Euro pro Patient. Daraus ergebe sich laut dem Gutachten aufgrund der ambulanten Dienstleistungen der Notaufnahmen ein bundesweites Gesamtdefizit der Klinikkonten von schätzungsweise 1 Milliarde Euro jährlich. Durch die Vergütungsregelungen der KVen und Krankenkassen sowie einen zehnprozentigen gesetzlichen Investitionsabschlag werde diese Leistung auch noch diskriminiert, beklagt Baum. In anderen Lagern führten die Rechenspiele zur finanziellen Schieflage der Notaufnahmen lediglich zu Kopfschütteln: „Wir erwarten, dass die Krankenhäuser bei einem sich ändernden Behandlungsbedarf ihr Leistungsangebot den Bedürfnissen der Patienten anpassen und nicht einfach nur nach mehr Geld rufen“, sagte der Sprecher des GKV-Spitzenverbands Florian Lanz. Der KBV-Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen appellierte hingegen mit Blick auf das geplante Versorgungsstärkungsgesetz an die Politik: „Die DKG zeigt selber auf, dass die Kliniken eine weitergehende Öffnung für die ambulante Versorgung nicht verkraften können.“ Notwendige Strukturreformen seien lange verschleppt worden, das räche sich nun bei den Kliniken. „Wir müssen sie besser mit dem ambulanten Notdienst verzahnen“, schlussfolgert der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn. Dann könne man auch über eine bessere Vergütung sprechen.
In weiten Teilen der Republik wurden bereits umfangreiche Anstrengungen unternommen, um die Kooperation zwischen ambulantem Notdienst und stationärem Sektor zu optimieren. Bereits im Jahr 2007 hatte die KV Schleswig-Holstein als erste damit begonnen, den ärztlichen Notdienst mit sogenannten Anlaufpraxen zu reformieren, die überwiegend an Krankenhäusern der Regelversorgung untergebracht sind. „Die Beratungs- und Besuchsanforderungen an Wochenenden und Feiertagen sind deutlich weniger geworden“, freut sich der KV-Notdienstbeauftragte Thomas Miklik. Er könne seine Patienten nun außerhalb der Sprechzeiten guten Gewissens an den Notdienst verweisen. In Baden-Württemberg wurde das Konzept weitgehend übernommen und trifft laut einer aktuellen Umfrage ebenfalls auf breite Zustimmung: „95 Prozent der Patienten würden die Notfallpraxis weiterempfehlen“. Während man in Schleswig-Holstein schon daran arbeitet, mit durchgehend geöffneten „Portalpraxen“ den nächsten Schritt zu wagen, stehen die Reformen andernorts noch auf wackligen Beinen. In Hessen provoziert die seit zwei Jahren stetig fortschreitende Umstrukturierung aktuell heftige Kritik, da sich nunmehr alle niedergelassenen Fach- und Allgemeinärzte im ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) einbringen sollen. Zwar verbessere das die Versorgung in ländlichen Bereichen, führe aber zu chaotischen Zuständen in den Ballungszentren: „In der Tauschbörse auf dem Portal ‚Mein ÄBD‘ ist der Teufel los“, erzählt ÄBD-Obmann Dr. Michael Wilk. „Niemand will erleben, dass eine Diagnose beim Patienten nicht hundertprozentig sicher erfolgen kann.“ Um einer ähnlichen Problematik vorzubeugen, hat die KV Bayern ihrerseits ein Poolarzt-Modell entworfen, das auf eine freiwillige Teilnahme interessierter Ärzte setzt – das Ergebnis dieser Akquise steht noch aus.
Trotz mancher Anlaufschwierigkeiten bei der Neuordnung des ambulanten Notdienstes sind die Verantwortlichen davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein: „In vielen KVen sind in den letzten Jahren ganz konsequent die Bereitschaftsdienste umorganisiert worden, gerade im Hinblick auf eine bessere Erreichbarkeit der Patienten“, hebt KBV-Vorstandsmitglied Regina Feldmann hervor. Man biete einen flächendeckenden ärztlichen Bereitschaftsdienst, pflichtet ihr der KBV-Vorstandsvorsitzende Gassen bei. Nicht zuletzt habe auch die 2012 eingeführte Notdienstnummer 116117 zu einer Verbesserung der Versorgung beigetragen: „Damit Patienten eben nicht nachschauen müssen, wie erreiche ich jetzt den notdiensthabenden Arzt“, erläutert Feldmann. Allein 2014 hätten über fünf Millionen Bürger diesen Service in Anspruch genommen und somit auch den eigentlichen Notdienst erheblich entlastet. „Das ist nicht die Realität. Die ambulante Notfallversorgung findet im Krankenhaus statt“, entgegnet ihr DKG-Geschäftsführer Baum. Nach der Auffassung von Dr. Jürgen Zastrow verschwiegen die Kliniken jedoch bei all ihren Klagen, dass ambulante Notfälle auch eine wesentliche Einnahmequelle darstellten: „Die Krankenhäuser gebrauchen den Notdienst auch, um ihre Betten zu füllen“, kontert der KV-Vorsitzende der Kreisstelle Köln. Immerhin werde jeder zehnte Notfall stationär aufgenommen. Zudem erhalten die Krankenhäuser Investitionen von den Ländern, während die Niedergelassenen den Bereitschaftsdienst aus einer eigenen Umlage finanzieren. Regina Feldmann von der KBV hält derlei Schuldzuweisungen oder Forderungen nicht für zielführend. Stattdessen müsse man darüber nachdenken, wie man den Weg der Patienten besser steuern könne, „denn ohne Einbeziehung des Patienten werden wir keine vernünftige Lösung hinbekommen“.