Die meisten Modelle der Neurowissenschaft schaffen nur eines: Zusammenhänge sehr präzise oder stark vereinfacht wiedergeben. Ein neuer Ansatz soll erstmals beides können.
In den Neurowissenschaften gibt es seit jeher einen Kompromiss zwischen der Genauigkeit eines Modells einer Nervenzelle und ihrer biologischen Komplexität. So existieren detaillierte Computermodelle vieler verschiedener Arten von Dendriten. Diese Modelle imitieren das Verhalten realer Dendriten mit einem hohen Grad an Genauigkeit. Der Nachteil dieser Modelle ist jedoch, dass sie sehr komplex sind.
Forschern des Instituts für Physiologie der Universität Bern ist es nun gelungen, ein einfaches und doch präzises Modell von Dendriten zu entwickeln. Mit diesem Modell lassen sich Reaktionen von Nervenzellen leichter darstellen und Simulationen mit großen Netzwerken von Nervenzellen mit Dendriten durchführen. Für die Anwendung in der KI kommt dies einem Durchbruch gleich. Die Studie wurde nun im Journal eLife publiziert.
Die Wissenschaftler versuchen seit langem, die Rolle der Dendriten bei Abläufen im Gehirn zu verstehen. Einerseits konstruierten sie detaillierte Modelle von Dendriten aus experimentellen Messungen, andererseits erstellten sie Netzwerkmodelle mit hoch abstrakten Dendriten, um etwa die Erkennung von Objekten berechnen zu können. „Unser Ziel war, eine rechnerische Methode zu finden, um die komplexen Modelle zu vereinfachen und dabei ein hohes Maß an Genauigkeit beizubehalten“, sagt Dr. Willem Wybo, federführender Wissenschaftler der Studie.
„Wir wollten, dass die Methode flexibel ist, so dass sie auf alle Arten von Dendriten angewendet werden kann. Wir wollten aber auch, dass sie so genau ist, dass sie die wichtigsten Funktionen eines jeden Dendriten präzise erfassen kann. Dies ermöglicht nun die Simulation von großen Nervenzellen-Netzwerken inklusive Dendriten“, erklärt Wybo.
„Unser Ansatz nutzt eine elegante mathematische Beziehung zwischen den Reaktionen von detaillierten Dendritenmodellen und von vereinfachten Dendritenmodellen“, sagt Walter Senn, Leiter der theoretischen Neurowissenschaften am Institut für Physiologie. Aufgrund dieser mathematischen Beziehung lässt sich eine Optimierung linear über die Parameter des vereinfachten Modells erreichen.
Das wichtigste Ergebnis der Arbeit ist die Methode selbst: ein flexibler und dennoch genauer Weg, um reduzierte Modelle von Nervenzellen aus experimentellen Daten und morphologischen Rekonstruktionen zu erstellen. „Unsere Methode widerspricht der bisherigen Wahrnehmung, dass es entweder Genauigkeit oder Komplexität gibt, indem sie zeigt, dass extrem vereinfachte Modelle immer noch einen Großteil der wichtigen Reaktionseigenschaften echter biologischer Nervenzellen erfassen können“, sagt Senn.
So können in bestimmten Situationen klare Grenzen festgelegt werden, wie stark ein Dendrit vereinfacht werden kann, während seine wichtigen Reaktionseigenschaften erhalten bleiben. „Zudem vereinfacht unsere Methode die Ableitung von Nervenzellenmodellen direkt aus experimentellen Daten erheblich“, betont Wybo. Die Methode wurde in einer Open-Source-Software-Toolbox namens NEAT zusammengefasst (Neural Analysis Toolkit), die den Vereinfachungsprozess automatisiert. NEAT ist öffentlich auf der Plattform GitHub verfügbar.
Die Modelle von Nervenzellen, die derzeit in KI-Anwendungen zum Einsatz kommen, sind im Vergleich zu ihren biologischen Gegenstücken äußerst vereinfacht, da sie gar keine Dendriten enthalten. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass die Einbeziehung von sehr einfachen, aber sehr präzisen Modellen in künstlichen neuronalen Netzwerken zum nächsten Sprung in der KI-Technologie führen wird.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Bern. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Christin Hume, Unsplash