Viel hilft nicht viel: Die HOT-ICU-Studie deutet darauf hin, dass ein hoher Sauerstoffpartialdruck in der Intensivmedizin nicht automatisch besser ist.
Kritisch kranke Patienten, die Funktionsstörungen der Lunge aufweisen, werden auf der Intensivstation häufig mittels maschineller Beatmung mit Sauerstoff behandelt. Dabei streben Mediziner einen bestimmten Sauerstoffpartialdruck an.
Es gibt weltweit unterschiedliche Strategien zum Zielwert und der Frage, ob der Sauerstoffpartialdruck höher oder niedriger eingesetzt werden sollte. „In der intensivmedizinischen Praxis und in der wissenschaftlichen Literatur blieb der jeweilige Nutzen bzw. das Risiko entsprechender Strategien unklar“, heißt es im Pressebericht zur Publikation.
An der großangelegten multinationalen Studie HOT-ICU wirkten 35 intensivmedizinischen Zentren in Europa mit. Als Untersuchungsgrundlage dienten Daten von 2.928 erwachsenen, schwerkranken Patienten mit einem Sauerstoffbedarf von mindestens 10 Litern pro Minute oder einem eingeatmeten Sauerstoffanteil von 50 Prozent.
Verglichen wurden dementsprechend eine Gruppe mit niedrigerem und eine mit höherem Sauerstoffzielwert (90 mmHg oder 60 mmHg arterieller Sauerstoffpartialdruck). Patienten wurden zufällig einer Behandlungsgruppe zugeteilt. Als primären Endpunkt definierten die Studienautoren die Sterblichkeitsrate nach 90 Tagen. Außerdem wurden folgende Faktoren dokumentiert: Die Anzahl der Tage ohne (notwendige) lebenserhaltende Maßnahmen, die Anzahl der Tage ohne Hospitalisierung und das Verhältnis der Patienten mit Schock, Herzinfarkt, Schlaganfall und Magen-Darm-Durchblutungsstörungen.
Anders als erwartet war die Sterberate nach 90 Tagen in beiden Gruppen durchaus vergleichbar. Zwischen der Gruppe mit dem höheren (n = 1447; 90 mmHg arteriellem Sauerstoffpartialdruck) und der mit niedrigerem Zielwert (n = 1441; 60 mmHg arteriellem Sauerstoffpartialdruck) wurde kein signifikanter Unterschied beobachtet.
Das Fazit lautet also: Die Erkenntnisse sprechen für eine „konservative“ Sauerstoffgabe mit niedrigerem Sauerstoffzielwert bei erwachsenen, kritisch kranken Patienten. Die Sterblichkeit nach 90 Tagen kann durch einen tieferen Sauerstoffzielwert nicht verringert werden. Der Anteil der Tage ohne lebenserhaltende Maßnahmen sowie die Anzahl der Tage ohne Hospitalisierung wurden ebenfalls als Kriterien definiert. Doch auch hier stellten die Studienautoren keinen signifikanten Unterschied fest.
„Praktisch sieht das Einstellen der ‚Sauerstoffziele‘ so aus, dass man den Sauerstoffpartialdruck im Blut misst (mittels Blutgasanalyse), und dann den Anteil des Sauerstoffs in der eingeatmeten Luft (FiO2) erhöht oder reduziert, bis das Ziel erreicht ist“, erklärt Dr. Joerg Schefold im Gespräch mit DocCheck. Er ist Forschungsleiter der Universitätsklinik für Intensivmedizin am Inselspital in Bern und war an der Studie beteiligt. „Dies kann bedeuten, dass man (in sogenannten ‚offenen Systemen‘, z. B. Sauerstoffmaske) weniger oder mehr Liter Sauerstoff gibt. Bei einem beatmeten Patienten stellt man am Beatmungsgerät die Sauerstoff-Zumischung (FiO2) ein (z.B. 40 % Sauerstoff oder 60 % etc.)“, so der Chefarzt.
Die Frage, ob diese Erkenntnisse Relevanz für die vorherrschende Corona-Pandemie haben, bleibt offen. „Die überwiegende Mehrzahl der Patienten der HOT-ICU Studie wurde lange vor COVID-19 in die Studie eingeschlossen. Wir können deshalb keine Aussage machen, die sich spezifisch auf COVID-19 bezieht.“
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