Mit einer 21 Jahre alten Blutprobe gelang es Humangenetikern der Universität Köln, eine Patientin ausfindig zu machen. Sie ist von einer seltenen Genmutation betroffen, die jetzt erstmals behandelt werden kann.
Mutationen in einem neu identifizierten Krankheitsgen namens VWA1 erklären erstmalig das häufige Fallen und späte Gehenlernen bei einigen Kleinkindern. Betroffenen fehlte bislang eine Diagnose. An der Genmutation erkrankt ist auch eine Patientin, deren Daten aus dem Kindesalter in einer vor 30 Jahren vom Medizininformatiker Dr. Radu Wirth programmierten Datenbank erfasst worden waren.
Die Humangenetikerin Prof. Brunhilde Wirth, Universitätsmedizin Köln, klärte jetzt mit ihrem Team nach 21 Jahren diesen bislang ungelösten Fall auf und enträtselte die genetische Ursache der Erkrankung. Die medizinische Detektivgeschichte, die das Forscherehepaar damit löste, wurde jetzt in der Fachzeitschrift Brain veröffentlicht.
Prof. Henry Houldon vom University College London und eine Gruppe internationaler Forscher haben Mutationen im VWA1 Gen bei Patienten mit einem milden Verlauf einem der spinalen Muskelatrophie (SMA) ähnlichen Krankheitsbild aufgedeckt. Fortschreitende Techniken der Genomsequenzierung und neue Auswertungsprogramme ermöglichen die Entdeckung einer Veränderung, die in einer sehr schwer sequenzierbaren Region des Genoms liegt und bei 1:500 bis 1:1000 Europäern vorkommt. Die Krankheit wird autosomal rezessiv vererbt. Diese Mutation zerstört die Funktion des Proteins, welches eine wichtige Rolle in der extrazellulären Matrix spielt.
Wirth kontaktierte die englische Gruppe, da in Köln ein Schatz ungelöster SMA-Fälle vorliegt. Ihr Mann programmierte eine schnelle Abfrage der Datenbank und deckte ca. 2.000 ungelöster SMA-Fälle auf. Das Team um seine Frau hat in nur wenigen Wochen das VWA1-Gen in über 1.000 Patienten mit Verdacht auf SMA auf Mutationen sequenziert.
Nach nur wenigen Tagen wurde die erste Patientin mit eben diesem Defekt – einer 10 Basenpaar-Insertion und einer zweiten Mutation in einem anderen VWA1-Genabschnitt – gefunden. Die Blutprobe der Patientin wurde vor 21 Jahren an Wirth am Institut für Humangenetik in Bonn geschickt, als sie dort habilitierte.
Während sie nach ihrer Rufannahme alle Proben der Patienten mit Verdacht auf SMA nach Köln transferieren durfte, blieben die Akten in Bonn. Das machte es schwierig, die Identität der Patientin zu klären. Ein Anruf in Bonn blieb ohne Erfolg. Doch in der Datenbank war noch der Einsender der Blutprobe vermerkt: Eine Anfrage bei der Kinderärztin lief jedoch ebenfalls ins Leere.
Daraufhin suchte Wirth Namen und Wohnort der Patientin im Internet, in der Hoffnung, einen Telefoneintrag zu finden – wieder ohne Erfolg. Aber sie fand überraschend eine Meldung, in der über einen Unfall einer jungen Frau berichtet wurde, die ein Gliedmaß verloren hatte und nun im Rahmen eines Kurses Jugendliche für die tragischen Folgen eines Autounfalls sensibilisierte. Name, Geburtsdatum und Region der beschriebenen Patientin passten zu der Betroffenen mit den VWA1-Mutationen. Ein Anruf in der dortigen Unfallchirurgie ergab, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die gesuchte Patientin handelte, aber kein Zugang zur elektronischen Akte mehr vorhanden war.
Daraufhin bat Wirth um die Kontaktaufnahme mit einem verantwortlichen Oberarzt, den sie per E-Mail über ihre Nachforschungen im Dienste der Wissenschaft informierte. Wenige Minuten später schrieb der Arzt, er kenne die Patientin und würde gleich Kontakt mit der Familie aufnehmen. Zehn Minuten später meldete sich die Familie telefonisch bei Wirth. Die Freude war riesig, dass nach über 20 Jahren die Ursache für die Erkrankung endlich aufgedeckt werden konnte.
Die betroffene Frau, die mittlerweile als Physiotherapeutin arbeitet, stellte den Forschern ihre sorgfältig aufbewahrten Krankenakten zu Verfügung. Nach weiteren drei Tagen kam die Patientin persönlich ins Zentrum für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik Köln. Nach mehr als 20 Jahren kann jetzt endlich eine gezielte Therapie ansetzen. Zudem wurden Videos und Bilder angefertigt und der Publikation beigefügt.
Wirth sagt: „Dieser Fall zeigt, dass es bei seltenen Erkrankungen äußerst wichtig ist, weder Krankenakten noch DNA-Proben zu vernichten.“ Auch die Bioinformatik spiele eine große Rolle: Eine Datenbank ermögliche eine schnelle Auswahl der DNA-Proben, die für eine wissenschaftliche Fragestellung geeignet sind. „Nur so erhalten Patienten die Chance auf Aufklärung ihrer Erkrankung für sich und ihre Angehörigen, und das auch rückwirkend nach vielen Jahren. Erst nach dieser Diagnose kann im optimalen Fall eine gezielte Therapie ansetzen“, fügt Wirth hinzu.
Ihr Appell an Betroffene: Eine Einverständniserklärung zur langfristigen Aufbewahrung der Proben und Daten sowie eine Beteiligung an wissenschaftlichen Fragestellungen, um Fortschritt in der Forschung und gezielte Therapien zu ermöglichen.
Zur vollständigen Pressemitteilung der Universität zu Köln kommt ihr hier. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Craig Whitehead, Unsplash